Die heimliche Lust
ihn im Grunde kaum weniger als früher. Ist das nicht einfach die Realität, wenn man jemanden seit langer Zeit liebt ?«
Inzwischen hat Jonathans Intensität ihr Herz erobert. »Er ist wie dieses wilde Geschöpf, das alles wissen will — was ich denke, was ich fühle. Er bemerkt alles — daß ich mir die Haare um zwei Zentimeter habe schneiden lassen, daß ich zuwenig geschlafen habe. >Du siehst blaß aus<, sagt er zu mir. >Warum hast du Ringe unter den Augen? Warum hast du nicht genug geschlafen ?< Ich antworte zwar immer, er soll es gut sein lassen, sich keine Sorgen machen, es gehe mir gut. Tatsächlich mag ich aber seine Fragen unheimlich gern.
Sicher würde nicht jede Frau auf Jonathan abfahren. Er hat etwas Rabiates an sich, das eine Frau verrückt machen würde, die seine Art von unbedingter Nähe nicht mag. Er ist gewissermaßen immer auf mir drauf, entschuldigen Sie den Kalauer. Sein sexuelles Engagement ist lächerlich, so intensiv ist es, als ob nichts genügen würde, außer der totalen Verschmelzung. >Ich will nicht bloß einen Teil von dir<, sagt er, worauf ich jedesmal antworte: >Ja, ich weiß, du willst mich ersticken .<
Aber, wissen Sie, nach etwa einem Jahr — nachdem ich bis dahin auf seine Intensität häufig reagiert hatte, indem ich mich ausklinkte, mich weigerte, zu verschmelzen, ihn oft wegscheuchte — geschah etwas Kurioses. Ich begann, mich nach dieser Art von Nähe zu sehnen, so tyrannisch sie sein mag. Sie machte mir weniger Angst. Sie kam mir lebendig vor — ich fühlte mich lebendig. Ich liebte es, mit ihm zu spielen — er war so witzig, so zugewandt. Er kannte mich so gut und war so aufmerksam. Statt mich vereinnahmt zu fühlen, begann ich, mich frei zu fühlen, als ob irgendein seltsames, tiefes Bedürfnis, von dem ich nicht einmal gewußt hatte, daß es in mir steckte, erfüllt worden sei. Ich saß irgendwo und sehnte mich wie verrückt nach ihm. Ich fing an, seine Art von Engagement nicht als eine rasende, vorübergehende Tollheit zu empfinden, sondern als eine normale Lebensweise, die richtige Art zu lieben. Ich möchte jetzt die ganze Zeit mit ihm beisammensein, mit ihm schlafen, besonders jetzt, da ich zum Orgasmus komme. Ich brauche nichts mehr zurückzuhalten. Was mich jetzt manchmal erschreckt, ist nicht etwa, daß ich Angst habe, sondern daß ich überhaupt keine Angst habe — ich fühle mich hellwach durch die Intimität dieser Beziehung. Ich fühle mich lebendig. Vielleicht kann ich es mir leisten..., auf Jonathan so abzufahren..., weil Russell so reserviert ist. Vielleicht tue ich nichts weiter, als die Leerstellen in meinem Leben auszufüllen, verstehen Sie? Man sagt doch, daß viele Seitensprünge bloß dazu dienen, die Primärbeziehung zu stabilisieren. Vielleicht ist es genau das, was ich tue. Oder vielleicht hoffe ich, daß es ausbrennen wird. Oder explodieren. Daß die Situation unhaltbar werden wird. Und das wird doch passieren, oder? Man kann nicht beides haben. Was mir wirklich am meisten Sorgen macht, ist, daß ich mir nicht vorstellen kann, auf einen der beiden zu verzichten. Ich fühle mich merkwürdig komplett: Ich habe etwas wiederbekommen, etwas, das ich an mir mochte und verloren hatte. Ich bin glücklich in meiner Ehe, und glücklich in meiner Liaison. Angeblich funktioniert das nicht, und angeblich müßte ich völlig durcheinander sein, aber in Wirklichkeit fühle ich mich besser als je zuvor, obwohl das allen Theorien widerspricht. Vom Verstand her weiß ich zwar, daß es nicht ewig so weitergehen kann, aber dann denke ich mir: Warum eigentlich nicht? Wer hat das behauptet ?« Die Entscheidung Junes, mit Jonathan zu schlafen, kam sicher gar nicht so plötzlich. Sie war in den letzten paar Monaten in Form dieser theoretischen Fragen bezüglich ihrer Ehe und Sex im allgemeinen herangereift — hatte sie Russell nur geheiratet, um ein Kind zu bekommen? Hätte sie ihn sonst nicht geheiratet? Wie geht eine Frau, die eine Affäre hat, mit dem Betrug um? Wie würde sich ein eigener Seitensprung auf Chloe, Russell und ihre Ehe auswirken? Sie erinnerte sich, daß diese müßigen Phantasien, die kein Motiv zu haben schienen, keinen Sinn, angefangen hatten, kurz bevor sie Jonathan kennengelernt hatte. Aber sie hatte sicherlich nicht die Absicht gehabt, ein Verhältnis anzufangen; das war etwas, das andere Frauen taten, auch Freundinnen von ihr, aber nicht sie.
Ebenso wie June hatten auch die meisten anderen Frauen, die ich kennenlernte, vorehelichen
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