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Die heimliche Lust

Die heimliche Lust

Titel: Die heimliche Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dalma Heyn
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ihr Gehirn sei »benebelt« worden, und das habe etwa vor neun Jahren, ein Jahr nach ihrer Heirat, begonnen. Estelle, siebenundfünfzig, klagte über Herzschmerzen, aber eine ärztliche Untersuchung hatte keinen organischen Befund ergeben. Carolyn, eine fünfundzwanzigjährige Kunsthändlerin, berichtete über medizinisch nicht erklärbare Anfälle von Kehlkopfentzündung bald nach ihrer Heirat. Die neununddreißigjährige Alison erzählte, daß sie die ganze Zeit gefroren habe, und ihre Worte vermittelten die Kälte, die sie ständig empfand: Sie sagte von sich selbst, sie sei viele Jahre lang »auf Eis gelegen«. Als ich sie auf ihr drastisches Bild aufmerksam machte, bemerkte sie, daß ihre Formulierung nicht nur für ein tiefgehendes sexuelles Erkalten zutreffe, »sondern auch für eine Leiche«. Die siebenundzwanzigjährige Karen hatte sich angewöhnt, ihre eigenen Sätze abzubrechen; sie sprach nur noch in halben Sätzen, als ob niemand auf das Ende Wert lege. Die fünfundvierzigjährige Virginia, Geschichtsprofessorin, meinte, sie habe in den achtzehn Jahren ihrer Ehe »eine Wachspuppe« aus sich gemacht — ein ideales Selbst, das sie ihrem Mann und sich vorgaukelte.
    Es ist eine Wachspuppe ohne Gefühle; sie ist, wie auch immer er sie haben will. Ich war wirklich sein Geschöpf — vertiefte mich in die Oper, beschäftigte mich mit der chinesischen Küche und brachte den Kindern Mozart nahe. Wenn er weg war, legte ich Fleetwood Mac auf und aß Eiscreme. Erst als die Wachspuppe mich zu ersticken drohte, spürte ich, daß ich weg wollte. Ich tat Dinge, die er nicht billigte — ich kochte nicht mehr und nahm Kurse in Steptanz, was er dumm fand. Er fühlte sich betrogen. Als mir klar wurde, wie viele Teile von mir mußten weggehackt werden, damit ich in das Puppenmodell paßte, geriet ich in Panik: Wenn ich die Schablone sprenge und ich selbst werde, dann verliere ich die Beziehung.
    Peter, ihr Mann, verstand nicht, was vor sich ging, verstand nicht, daß Virginia überhaupt etwas verloren hatte; um so weniger, warum sie erst jetzt, achtzehn Jahre später, so empfand. Er erlebe ihre Verwirrung und ihre Wut, sagt sie, als eine kindische Rebellion, die sich fälschlicherweise gegen ihn richte.
    Er fühlte sich von mir zum Schurken gemacht, weil ich den Vertrag ändern wollte. Er hatte recht; er war nicht der Schurke, aber ich muß ihm das Gefühl gegeben haben, daß sich mein Zorn gegen ihn richte. Trotzdem gab ich ihm nicht die Schuld; ich hatte mitgeholfen, diese Figur zu erschaffen, von der wir beide glaubten, das sei ich. Ich war ebenso verantwortlich für das, was ich geworden war, wie er. Und wissen Sie was? Ich glaube nicht einmal, daß er mich so mochte; wie hätte es im Grunde anders sein können? Ich war nicht mehr der Mensch, den er geheiratet hatte! Anfangs hatte er mich wirklich gemocht, diese Person aber... war nicht einmal mehr die Hälfte des Menschen, den er geheiratet hatte! Ich war überhaupt keine Person mehr. Doch keiner von uns beiden erkannte das. Wir hatten uns einfach ineinander verbissen; er fragte sich, warum ich verrückt geworden war, ich fragte mich, wie ich ihm den Grund verständlich machen sollte, ohne defensiv zu werden.
    Wie Virginia Woolfs eindrucksvolle Schilderung ihrer Kindheitsdepression — »das Gefühl... in einer Weinbeere eingeschlossen zu sein und durch einen halb transparenten, gelblichen Film zu blicken« — , so zogen sich wehmütige Bemerkungen über erstickte Stimmen und vernebelte Perspektiven, über verschwundene Lebendigkeit und halbierte Persönlichkeiten oder Ersatzpersönlichkeiten durch die Geschichte jeder Frau. Ihre Worte, die ihr physisches Mißbehagen, ihre Entfremdung und Fragmentierung so anschaulich schilderten, führten mich durch den trüben Film zum Ursprung von Sehnsucht und Traurigkeit. Die Sprache ihrer physischen Empfindungen — eine Sprache ohne Kontakt zum Körper, wie völlig von ihm abgelöst — erzählte eine Geschichte des Verlusts und enthüllte eine Seele, die aus dem Gleichgewicht geraten war — wenn sich all dies auch hinter Selbstironie oder einer heiteren Fassade verbarg. Aber es ist eine fragwürdige Heiterkeit, so wie die, mit der Frauen auf das Firmenschild der englischen Restaurantkette »The Silent Woman« (Die schweigsame Frau) oder auf das Etikett eines Weines namens »The Quiet Woman« (Die stumme Frau) reagieren: Auf beidem ist eine geköpfte Frau abgebildet, geköpft, damit sie auch wirklich schweigt. Vielleicht

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