Die heimliche Lust
»Hier dominierte eindeutig das Problem des Verlusts. Obwohl sich viele Frauenartikel und -geschichten mit Gefühlsbeziehungen und der Frage befaßten, wie man andere erfreut — besonders, wie man Männer erfreut«, schrieb Guttetag ironisch — , »war das Thema von Verlusten und wie man mit ihnen umgeht, allgegenwärtig.« [Hervorhebung durch M. G.] In all diesen für Frauen gedachten Texten war die Gefahr eines möglichen Zerreißens wichtiger emotionaler Bindungen letzten Endes »die Hauptsorge« und das Thema Nr. 1. Die Psychiaterin Jean Baker Miller, die das ebenfalls hervorhob, bemerkt: »Viele Frauen empfinden den drohenden Verlust einer Bindung nicht bloß als den Verlust einer Beziehung, sondern eher wie einen totalen Selbstverlust .«
Es wäre ein Fehler, diese Tendenz als Anzeichen übermäßiger Abhängigkeit der Frauen von ihren Beziehungen zu interpretieren, bemerkt Dana Crowley Jack in Silencing the Self (1991), denn: »Wenn die Depression durch eine übertriebene Abhängigkeit der Frauen von ihren Beziehungen bedingt wäre, dann müßte der Verlust dieser Beziehungen die Depression beschleunigen. Wir müßten dann feststellen, daß Witwen häufiger depressiv sind als Witwer .« Aber das Gegenteil trifft zu.
In unglücklichen Ehen sind Frauen, wie Untersuchungen zeigen, dreimal anfälliger für Depressionen als Männer. Und in glücklichen Ehen, in denen die Häufigkeit von Depressionen bei Männern wie bei Frauen insgesamt geringer ist, leiden Frauen dennoch fast fünfmal so häufig an Depressionen wie Männer.
Es ist bekannt, daß Depressionen im Leben einer Frau zweimal einen Gipfel erreichen — das erste Mal in der Adoleszenz und dann irgendwann zwischen dem einundzwanzigsten und vierundvierzigsten Lebensjahr (wobei das Alter des Einsetzens nach unten tendiert). In beiden Lebensstadien machen Frauen eine Beziehungskrise durch, die sich speziell um ihre Sexualität dreht: Sowohl in ihrer Jugend als auch in der Ehe sind sie gezwungen, ihr erotisches Selbst einzuschränken und in eine gefälligere, gezügeltere, eben selbstlosere Form zu zwängen.
Ich denke an die Bewunderung des vorbildlichen Mädchens in der Pubertät und die gleichzeitige Wut auf sie und später an die Bewunderung und die Wut, die Frauen gegenüber der vorbildlichen Ehefrau empfinden. Ich denke an die Verdrängung dieser Wut in einer Gesellschaft, die immer noch Vorstellungen von rigider Angepaßtheit aufrechterhält. (»Auch heute noch«, schreibt Carolyn Heilbrun, »nach zwei Jahrzehnten des Feminismus, scheuen sich junge Frauen, ihre Wut auf das Patriarchat zum Ausdruck zu bringen. Vielleicht können nur Frauen, die das patriarchalische Spiel mitgespielt und sich trotzdem ein Selbst errungen haben, den Mut aufbringen, für den Feminismus einzutreten, denn das bringt immer noch reichlich Ungemach mit sich.«) Die in diesen zwei Altersgruppen so verbreitete Depression ist weder ein Zufall noch unerklärlich. In beiden Lebensphasen wird von Frauen erwartet, sich so umzukrempeln, daß sie perfekt dem entsprechen, was sie sein »sollten« und was sie wollen »sollten«; daß sie ihre konkreten Beziehungen und Lebensgeschichten gegen idealisierte, reichlich abgestandene Versionen von beidem eintauschen. Dies ist eine Anforderung, die ihre Gefühle verändert, ihr Wissen abwertet, ihre Erlebnisse verbietet, ihre Verbindungen durchtrennt und ihre Sexualität hemmt.
»Die Depression gleicht dem Kummer«, erinnert uns Dana Crowley Jack; »in beidem sind die Gefühle von Verlust und Traurigkeit beherrschend .« Die Frauen, mit denen ich sprach, empfanden Gram über ihr verlorengegangenes sexuelles Selbst. Der Verlust, von dem sie redeten, war kein potentieller Verlust, kein drohender Bruch einer emotionalen Bindung, sondern eine Tatsache; keine beginnende Furcht wegen eines künftigen Verlusts, sondern das beharrliche Echo eines vergangenen, der ihnen körperliche Schmerzen verursachte. Sie fürchteten nicht um eine Verbindung, die bald enden könnte, sondern trauerten um eine Fähigkeit zur Lust, die bereits abgestorben war. Wo sie abstarb — wo sie ihre Sexualität verloren — , war nicht in der Ehe als solcher, sondern in der Angepaßtheit. Die Ehe war bloß der Anlaß ihrer Kapitulation und das Vehikel, das sie unterstützte und aufrechterhielt (später zieht die Mutterschaft diesem Korsett weitere Stäbe ein).
So bedrückend es diese Frauen auch empfanden, in Beziehungen zu verharren, in denen sie ihre Sexualität erstickt
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