Die heißen Kuesse der Revolution
ihm zögernd mitgeteilt, dass sie in die Stadt müsse. Zu ihrer Verblüffung hatte er sie dazu ermutigt. Es schien ihm nichts auszumachen, ihr nachmittägliches Stelldichein heute aufgeben zu müssen. Stattdessen hatte er sie ausdrücklich darauf hingewiesen, wie dringend er die letzten Zeitungen aus London benötigte. Im Gegensatz zu ihr hatte er den Rest der Welt nicht vergessen. Für Julianne war es wie ein Schlag ins Gesicht. Sie hatte in den vergangenen zwölf Tagen nicht mehr an den Krieg, die Revolution oder an die Maßnahmen der Regierung hier im eigenen Land gedacht. Es war unentschuldbar.
Selbstverständlich wollte sie ihm die neusten Nachrichten bringen.
Was Tom zu berichten hatte, war nicht gerade erfreulich. Lyon, Marseille und Toulon befanden sich in den Händen von Revolutionsfeinden. In Paris gab es immer noch Unruhen, hauptsächlich wegen der hohen Brotpreise und der allgemeinen Lebensmittelknappheit. Die ganze Stadt schien beinahe in Anarchie zu versinken. Sofern sich nicht gerade die Polizei sehen ließ, wurden die Straßen von der Menge beherrscht. Wie Tom behauptete, war auch der Rest des Landes von Aufruhr erfüllt.
Bis zu diesem Augenblick hatten sie nur über den Krieg und die Vorgänge in Frankreich gesprochen. Es hatte noch keine Gelegenheit gegeben, über ihre persönlichen Angelegenheiten zu reden.
„Ich bin doch immer fröhlich“, sagte sie nun zu Tom. „Aber du wirkst bedrückt. Stimmt irgendetwas nicht, Tom?“
„Ich habe Gerüchte gehört, dass Pitt ein neues Ministerium einrichten will. Es soll sich ausschließlich mit französischer Spionage hier in Großbritannien beschäftigen.“ Er verdrehte die Augen. „Sie nennen es das Ausländerbüro.“
„Gibt es denn französische Spione in England?“
„Das kann ich mir schon vorstellen. Bei den viele Emigranten, die sich hier überall herumtreiben und finstere royalistische Verschwörungen gegen die Republik schmieden, wäre das gar nicht so abwegig.“ Nachdenklich fügte er hinzu: „Was der Klatsch aber eigentlich besagt, ist, dass Premierminister William Pitt diese neue Behörde dazu nutzen will, Sympathisanten der Jakobiner wie dich und mich zu verfolgen.“
Angst durchzuckte sie. „Aber das ist doch absurd! Unsere Regierung wird doch wohl nicht die eigenen Bürger bespitzeln.“
„Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das absurd ist. Pitt hasst uns, der König hasst uns, alle Torys hassen uns.“
Sie erschauderte.
„Also sei auf jeden Fall vorsichtig. Wir haben seit Wochen nicht mehr miteinander reden können, Julianne. Ich habe einen Brief von Marcel erhalten.“ Das war ihr Kontaktmann im Pariser Jakobinerklub, mit dem sie brieflich in Verbindung standen. „Er behauptet, eine Emigrantenfamilie habe sich im südlichen Cornwall niedergelassen oder wolle das demnächst tun. Er bittet mich, den Aufenthaltsort eines gewissen Comte d’Archand und seiner beiden Kinder festzustellen. Hast du schon mal von diesem Herrn gehört?“
„Nein, noch nie“, erwiderte sie verblüfft. „Warum wollen sie wissen, wo der Mann sich aufhält?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung, aber ich habe ihnen versichert, wir würden gern behilflich sein.“
„Natürlich werden wir helfen“, sagte sie und klopfte auf seinen Arm.
Tom betrachtete sie. „Ich habe dich vermisst.“
Julianne verkrampfte sich.
„Was ist nur los, Julianne? Wieso siehst du mich so an?“, fragte er. „Du weißt doch, was ich für dich empfinde.“
„Natürlich“, antwortete sie bestürzt. Das alte Herrenhaus war jetzt zu sehen, schroff hob es sich vom Himmel und vom Ozean ab. Sie holte tief Luft. „Ich habe dir doch von Charles Maurice geschrieben.“ Schon vor Wochen hatte sie ihm eine kurze Nachricht zukommen lassen. „Ich musste mich um einen schwer verletzten Menschen kümmern. Da blieb mir keine Sekunde übrig, um über meine eigenen Belange nachzudenken.“ Sie wandte sich ab, weil sie spürte, wie ihre Wangen erröteten. Sie hatte Tom angelogen. In Wahrheit hatte sie in den vergangenen beiden Wochen an nichts anderes gedacht als ihre Liebe zu Charles.
„Es muss sehr belastend sein, so lange Zeit einen unbekannten kranken Gast zu pflegen.“
Julianne seufzte innerlich. „Zum Glück ist Charles ein interessanter Mann. Er ist mir nicht zur Last gefallen. Du wirst ihn mögen, Tom, denn er ist charmant und kann sich sehr gut ausdrücken.“
Tom musterte sie scharf. „Du nennst ihn Charles?“
Sie wich seinem Blick aus. „Er ist mir zu
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