Die Henkerstochter und der K�nig der Bettler
angebracht, doch es war zu finster, um die Inschriften darauf entziffern zu können. Direkt hinter dem Becken führte ein spitzbogiger Durchgang in ein weiteres Gewölbe, aus dem lautes, halliges Rauschen zu hören war.
Schweigend trugen die fünf Flößer die Mehlsäcke an ihr und Silvio vorbei durch das knietiefe Becken ins hintere Gewölbe. Als sie damit fertig waren, gab ihnen der Venezianer einen Wink.
»Haltet oben Wache. Nur Jeremias soll bei uns bleiben.« Er deutete auf den stämmigen Flößer zu ihrer Linken, der ergeben nickte und sich mit verschränkten Armen neben Magdalena aufbaute. »Nur falls Ihr Euch weigern solltet, Eure Trinkkur anzutreten«, beruhigte Silvio die Henkerstochter. »Patienten sind, wie Ihr selbst wisst, manchmal ein wenig bockig.«
Quietschend schloss sich die Eisentür.
»Keine Angst.« Der Venezianer holte einen Zinnbecher aus seiner Rocktasche. »Ihr werdet kein Mehl essen müssen. Es wird reichen, wenn Ihr das Mutterkorn mit Wasser verdünnt zu Euch nehmt. Leider kann ich Euch keinen Wein anbieten, das würde die Wirkung verfälschen.« Silvio zog ein silbernes Löffelchen hervor, tauchte es in einen bereits geöffneten Mehlsack neben ihm und ließ das weiß-bläuliche Pulver in den Becher rieseln.
»Wirwissen immer noch nicht genau, wie stark das Gift bei Menschen wirkt«, erklärte er. »Und vor allem nicht, wie schnell. Wenn wir das Mutterkorn nicht als Brot verabreichen, sondern im Brunnenwasser verrühren, wird es vermutlich länger dauern, bis die ersten Symptome einsetzen.« Er schnupperte probeweise an dem Becher und zuckte mit den Schultern. »Nun, der Reichstag dauert erwartungsgemäß ein paar Wochen, die Zeit müsste also reichen. Für Euch bedeutet das allerdings, dass sich das Experiment bedauerlicherweise ein wenig in die Länge zieht. Außerdem dürften Eure Visionen in einer solchen Umgebung recht interessant ausfallen. Darf ich?« Silvio stellte den Becher ab, zog einen Dolch hervor und schnitt Magdalena mit einer galanten Bewegung die Fußfesseln durch. »Wenn Ihr hier schon die nächsten Wochen bleiben müsst, sollt Ihr Euch wenigstens frei bewegen dürfen. Ihr müsst Euch Euer neues Zuhause unbedingt einmal anschauen. Es ist wirklich … nun, seht selbst.«
Silvio Contarini stieg über den Beckenrand und watete hinüber zu dem Durchgang, der in das hintere dunkle Gewölbe führte.
Er will mich hier wirklich die nächsten Wochen einsperren und mir Becher für Becher das verdammte Mutterkorn einflößen! , dachte Magdalena. Sie schloss kurz die Augen, um die beginnende Panik niederzukämpfen. Schon jetzt nagte das Rauschen des Wassers an ihren Nerven, der Hall in dem unterirdischen Gewölbe verstärkte das Geräusch, so dass es sich anhörte wie ein einziger turmhoher Wasserfall.
Wie lange wird es dauern, bis mich die Alpträume überkommen? Und wie werden diese Träume hier unten aussehen?
Magdalenahatte beschlossen, kein Wort mehr zu sagen. Trotzdem folgte sie dem Venezianer, der nun gemeinsam mit dem stämmigen Flößer in das hintere Gewölbe trat. Als die Henkerstochter sich unter dem niedrigen Torbogen hindurchduckte, wich sie unwillkürlich einen Schritt zurück.
Der Raum war gigantisch.
Fackeln erhellten in regelmäßigen Abständen einen schmalen Korridor, der sich erst in weiter Ferne in der Schwärze verlor. Magdalena vermutete, dass das Gewölbe in der Länge mindestens siebenhundert Schritt maß. Auf seinem Boden schimmerte Wasser, von dem sie nicht sagen konnte, wie tief es war. Aus Löchern und Rohren in der Wand sprudelten kleine und große Wasserfälle in das Becken; der ganze Raum war erfüllt von einem stetigen Plätschern, dessen Echo von den Wänden und der Decke widerhallte. Links und rechts an der Seite befanden sich schmale, erhöhte Simse, auf denen fein säuberlich aufgereiht etwa zwei Dutzend Mehlsäcke standen.
»Willkommen in Eurem neuen Heim«, brüllte Silvio gegen das Rauschen an. »Aus dieser Quelle trinkt die Welt!«
Er ließ sich von Jeremias den Zinnbecher reichen und deutete auf die Säcke. »Bis zum Reichstag werden wir das Mutterkorn hier unten lagern, bevor wir die dreißig Zentner dann langsam im Wasser auflösen. Es steht nicht zu befürchten, dass Euch jemand entdeckt. Zumal ich mir den einzigen Schlüssel besorgt habe. Und nun …« Mit einer feierlichen Geste hielt Silvio Contarini den Becher unter einen kleinen Wasserfall. Sorgfältig rührte er anschließend um und näherte sich mit dem Gefäß
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