Die Henkerstochter und der schwarze M�nch
Holzgerüste von sich wegzuschieben. Doch irgendwo schienen sie sich verklemmt zuhaben. Sosehr er auch drückte, sie bewegten sich kaum einen Fingerbreit. Schritte tappten an den umgefallenen Kulissen vorbei. Der Henker hörte, wie der Dolch kratzend über die Leinwand fuhr. Nathanael schnitt den dünnen Stoff der Länge nach auf. Bald würde er am Hals des Henkers angelangt sein.
»Die Kirche ist keine sanftmütige Gemeinschaft von Lämmern, die zur Schlachtbank gehen«, sagte der Mönch, während er weiterarbeitete. »Die Kirche hat immer auch solche wie mich gebraucht. Nur so ist sie so alt geworden. Sie muss strafen und vernichten, so wie es bereits Johannes der Täufer über unseren Heiland prophezeit hat. Kennst du den Bibelvers, Kuisl? Er muss die Spreu vom Weizen trennen und den Weizen in seine Scheune bringen. Die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen.« Der Dolch verharrte in Höhe der Kehle des Henkers. »Und du bist nun die Spreu, Kuisl.«
Plötzlich schoss die Faust des Scharfrichters durch die Leinwand, dort, wo der sorgenvolle Mund des Heilands aufgemalt war. Finger krallten sich um die Hand, die den Dolch hielt, und zogen Bruder Nathanael nach unten. Der Mönch verlor das Gleichgewicht und stürzte keuchend in die Kulisse, klirrend fiel der Dolch zu Boden. Eine zweite Hand bohrte sich durch den Stoff und umklammerte Nathanaels Hals. Wie ein Schraubstock drückte sie zu, während der Mönch verzweifelt versuchte, Halt zu bekommen. Nun fasste auch die andere Hand des Henkers um seine Kehle. Nathanael zappelte wie ein Fisch an Land, seine Finger stießen durch die Kulisse, doch sie konnten den Mann darunter nicht greifen. Der Mönch zuckte und ruderte mit den Armen. Die Bewegungen wurden schwächer und schwächer, bis Nathanael schließlich mit der Stirn voran auf die Leinwand sank. Fast sah es aus, als küsste er den Heiland aus Stoff auf den Mund, dann rollte er zur Seite und blieb mit offenen Augen auf der Bühne liegen.
Jakob Kuisl kroch unter dem Gerüst hervor und warf einen letzten, fast bedauernden Blick auf den toten Dominikaner.
»Warum müsst’s auch immer so viel reden«, sagte er, während er sich seine klobigen, rußigen Hände am Rock abwischte. »Wennst töten willst, tu es und red nicht lang rum.«
Erst jetzt schien er das Inferno um sich herum zu bemerken. Die Flammen hatten mittlerweile die Stuhlreihen in der Mitte des Theaters erreicht. Selbst die Kulissen vor Kuisls Füßen fingen bereits Feuer. Die ersten Balken stürzten krachend von den Galerien zu Boden.
Von der Luke im Bühnenboden war vor lauter Rauch nichts mehr zu sehen. Der Henker hustete und stieg die Treppe hinunter zum Hauptportal, um nach draußen zu gelangen.Ein letztes Mal sah er sich kopfschüttelnd um. Wer sich jetzt noch in dem Keller unter der Bühne befand, war dem Tode geweiht, falls es keinen anderen Ausgang gab. Es wäre jedenfalls Wahnsinn, dort noch hinunterzusteigen.
Er war schon in der Mitte des Theaterraums angelangt, als er das Quietschen des Flaschenzugs hörte.
Der Qualm unten in der Krypta war mittlerweile so dicht, dass vom oberen Drittel des Raumes nichts mehr zu sehen war; die Seile des Aufzugs endeten irgendwo im grauen Nichts. Simon überlegte hastig. Der Tunnel, der sie hierhergeführt hatte, war vermutlich bereits voller Rauch. Der einzige Weg hinaus führte also nach oben. Der Medicus rannte auf die heruntergelassene Plattform zu und hielt Ausschau nach dem Mechanismus, der sie in Bewegung setzte.
»Es muss einen Flaschenzug hier geben!«, rief er Benedikta und Magdalena zu. »Einen Hebel, eine Kurbel, irgendwas! Helft mir suchen!«
Aus dem Augenwinkel sah Simon, dass Augustin Bonenmayr immer noch mit dem Kreuz in der Hand in der Öffnung zum Grabraum stand. Der Steingadener Abt starrte auf die Flammen, die sich von oben durch den Bühnenboden fraßen. Das flackernde Licht spiegelte sich in seinem schief auf der Nase sitzenden Kneifer. Bonenmayrs Murmeln schwoll jetzt zu einer Litanei an, während über ihnen bereits der Theatersaal einzustürzen drohte.
»Und der erste Engel blies seine Posaune«, intonierte der Abt. »Da fielen Hagel und Feuer, die mit Blut vermischt waren, auf das Land ... «
»Wo ist der verfluchte Flaschenzug?«, brüllte Simon in das Ohr von Bruder Lothar, der steif vor Schreck auf die Qualmwolke an der Decke blickte. »Wenn du hier lebend rauskommen willst, mach endlich das Maul auf!«
Bruder Lothar deutete stumm auf eine unscheinbare
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