Die Herren der Unterwelt 01 - Schwarze Nacht
flackerte und verblasste, als Hoffnung in ihr aufkeimte. Als sein Antlitz verschwunden war, wurden die Stimmen wieder lauter. Und lauter. Sie riss die Augen auf und rief sich sein Gesicht wieder in Erinnerung. Die Stimmen wurden wieder leiser und ertragbar.
Wäre die Situation nicht so schrecklich gewesen, sie hätte übers ganze Gesicht gestrahlt. Ich kann sie kontrollieren. Ich kann sie kontrollieren! Das war schier unglaublich. Erstaunlich. Ein Wunder. Kein Verstecken mehr. Kein Meiden von Orten mit großen Menschenansammlungen. Nie wieder!
Äh, Darrow. Ich will ja keine Spaßbremse sein, aber du wirst gefangen gehalten. Von einem Jäger. Erinnerst du dich?
Eine Stimme kicherte fröhlich, als hätte sie den inneren Dialog gehört. Ich weiß, wie man hier rauskommt. Machst du mit oder willst du in diesem Drecksloch bleiben? Wir müssen nur ein bisschen graben.
Der Mann aus der Vergangenheit sprach nicht mit ihr, sondern mit einem anderen Gefangenen. Die Unterhaltung interessierte sie, und sie spitzte die Ohren. Ohne Maddox’ Bild auch nur für eine Sekunde loszulassen, hörte sie der Stimme zu, die ihr genau beschrieb, wie sie vorgehen musste. Dann grinste sie tatsächlich.
„Danke“, flüsterte sie, als es ruhig wurde.
„Ja, ja. Keine Ursache“, ertönte eine neue Stimme. Gegenwart, nicht Vergangenheit.
Ihr Lächeln erstarb, und sie suchte mit den Augen die Zelle ab. Sie war allein, aber irgendetwas … erfüllte die Luft. Sie summte vor Energie. „Wer ist da?“
„Du willst doch wissen, wie man den Fluch brechen kann, oder nicht?“ Das war eine Feststellung, keine Frage, und sie kam von einer Frau. „Ich dachte, ich hätte dich vor Kurzem danach fragen gehört.“
Ashlyn spürte eine warme Linie, die sich von einer Schulter zur anderen ausbreitete, als würde ihr jemand mit der Fingerkuppe über die Haut fahren. Dann tanzte vor ihr eine warme Brise. Sie sah immer noch nichts. Womit sie es auch zu tun hatte, sie wusste, dass es kein Mensch war. Ein unsterbliches Wesen? Einer von Maddox’ Göttern?
„Ja“, erwiderte sie mit zitternder Stimme. „Das stimmt.“
„Cool. Dabei kann ich dir voll helfen.“
Cool? Voll? Und das aus dem Mund einer potenziellen Göttin? Wo waren die Euchs und Ihrs? „ Hilfst du mir auch zu fliehen?“
„Eins nach dem anderen, mein Kätzchen.“ In der Ecke schimmerte irgendetwas. Dann wurden lange, weiße Haare sichtbar. Als Nächstes nahm eine große Frau mit der Figur eines Supermodels Gestalt an. Sie trug ein rotes, bauchfreies Top und einen schwarzen Rock, der ihr gerade eben bis über den Po reichte, und hohe, tiefschwarze Stiefel. Zuletzt materialisierte sich ein Gesicht, und auf einmal erblickte Ashlyn die Inkarnation der Schönheit. Die Gesichtszüge waren so perfekt, so erhaben und majestätisch, dass sie nur zu einer Göttin gehören konnten. „Dein Freund, Entführer, was auch immer hat doch von Märchen gesprochen, stimmt’s?“
Hatte sie jetzt schon Wahnvorstellungen, oder war diese Frau echt? „Ja.“
„Dann kennst du die Antwort ja schon. Denk über die Geschichten nach.“ Sie zog die Augenbrauen hoch und leckte an einem grellpinken Lutscher. „Was hast du daraus gelernt?“
Für mich ist sie echt genug, dachte Ashlyn. „Dass ich nach meinem Prinz suchen muss?“
„Igitt. Falsch. Denk nach, Süße. Ich will wieder zurück.“
Zurück wohin? Wie hieß dieses Wesen? Und warum war es hier und half ihr?
„Ich habe gesagt, du sollst nachdenken, und, Baby, du siehst nicht gerade so aus, als würdest du das tun. Stattdessen starrst du mich an. Willst du etwa ein Stück?“
Von ihr? „Nein. Natürlich nicht.“
Achselzucken. „Dann schlage ich vor, du machst dich an die Arbeit.“
Okay, okay. Nachdenken … Es war gar nicht so einfach, sich an die Details einer Geschichte zu erinnern, wenn der Drang zu fliehen so groß war. Aber irgendwie schaffte sie es. In „Dornröschen“ kämpft sich der Prinz durch Dornen und Feuer, um den Drachen zu töten und seine Frau zu retten. In „Jungfrau Maleen“ durchbohrt die Prinzessin die Mauern des Turms, in dem sie sieben Jahre lang eingesperrt war. Dabei geben ihr ihr Lebenswille und die feste Entschlossenheit, ihren Prinzen zu finden, die Kraft. In „Die sechs Schwäne“ schweigt die Prinzessin sechs Jahre lang, um ihre Brüder von einem schrecklichen Fluch zu befreien.
Ashlyn hatte bei den Märchen immer geseufzt und sie tief in ihrem Herzen eingeschlossen, damit sie davon zehren konnte,
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