Die Herren der Unterwelt 01 - Schwarze Nacht
die Stimme. Er hörte ein körperloses Lachen. Denk genau nach, bevor du antwortest, und sei dir bewusst, dass deine Frau sterben könnte.
Er betrachtete Ashlyns zitternden Körper und ihr schmerzverzerrtes Gesicht und musste daran denken, wie sie vorher gewesen war. Wie sieh ihn verzückt angesehen und gebeten hatte, die Stille mit ihr zu genießen. Wie sie vor ihm gestanden und sich für das Essen bedankt hatte. Wie sie sich vor ihn gestellt hatte, um ihn vor seinen eigenen Freunden zu beschützen.
Bis dahin – bis jetzt – hatte ihn niemand gebraucht. Dass sie ihn brauchte, berauschte ihn, und es verstärkte seine Zuneigung. Ich kann sie nicht weiter leiden lassen, dachte er.
Er würde es drauf ankommen lassen müssen und sich den Titanen stellen. Was auch immer sie wirklich von den Kriegern wollten, was auch immer sie für Absichten hegten und ob sie die Jäger und Ashlyn tatsächlich benutzten, um ihn für seinen mangelnden Respekt zu bestrafen oder nicht – er würde es darauf ankommen lassen.
Er unterdrückte ein Fluchen, denn er ahnte, dass er in nicht allzu ferner Zukunft so sehr leiden würde wie noch nie zuvor. Doch das änderte nichts an seiner Antwort. „Ja, alles.“
Reyes atmete schwer, als er zu Luciens Zimmer rannte. Er hatte in den vergangenen Tagen eine Menge Blut verloren. Mehr als gewöhnlich. Aber das Verlangen nach Schmerz, nach diesem furchtbaren, wundervollen Schmerz, war in letzter Zeit auch besonders stark gewesen.
Er wusste weder, warum, noch was er dagegen tun konnte. Er konnte es nicht mehr richtig kontrollieren und hatte während der vergangenen Tage den Versuch aufgegeben. Was der Dämon des Schmerzes wollte, das bekam er auch. Und mit jedem Tag, der verstricht, nahm sein Wunsch, ihn zu beherrschen, stetig ab. Ein Teil von ihm wollte den Dämon umarmen und sich endlich in ihm verlieren, um die Taubheit zu spüren, die jedes kleine Leiden auslöste.
Früher war das alles anders gewesen. Er hatte gelernt, mit dem Dämon zu leben und sich mit ihm zu arrangieren. Aber jetzt …
Als er um die Ecke bog, blendete ihn das marmorierte Licht, das durch ein Seitenfenster fiel. Er hatte Maddox noch nie so zerrissen und verängstigt gesehen. So verletzlich. Und das wegen eines Menschen, eines Fremden. Eines Köders. Reyes gefiel die Sache nicht, doch Maddox war sein Freund, und er würde ihm helfen, wo immer er konnte.
Er würde ihm helfen, obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, als dass alles wieder seinen gewohnten Gang nahm. Dass Maddox um Mitternacht tobte und starb und am nächsten Morgen so tat, als mache es ihm nichts aus. Denn wenn Maddox so tat, als wäre alles in Ordnung, fiel es auch Reyes leichter.
Seine wirren Gedanken verflüchtigten sich, als er Lucien erblickte.
Er saß mit angezogenen Beinen auf dem Boden und hatte den Kopf auf die Hände gestützt. Sein dunkler Haarkranz stand ihm wirr vom Kopf ab, als wäre er zu oft mit den Fingern durchgefahren. Er wirkte niedergeschlagen und kraftlos. Reyes schluckte den Kloß herunter, der ihm in der Kehle steckte.
Wenn die Situation sogar den sonst so stoischen Lucien aus der Fassung bringen konnte …
Je näher er kam, desto intensiver wurde der Rosenduft. Tod roch immer nach Blumen. Armer Kerl. „Lucien“, rief er.
Lucien reagierte nicht.
„Lucien.“
Wieder keine Antwort.
Reyes trat dicht an ihn heran, beugte sich zu ihm runter, legte ihm die Hand auf die Schulter und schüttelte ihn. Nichts. Er kniete sich hin und winkte mit der Hand vor den Augen des Kriegers hin und her. Nichts. Luciens Blick war leer, sein Mund bewegungslos. Da begriff Reyes. Statt die Burg – wie gewöhnlich – in seinem Körper zu verlassen und sich innerhalb von Sekunden von einem Ort zum nächsten zu beamen, war Lucien nur mit seiner Seele unterwegs.
Das tat er nur selten, da sein Körper in dieser Zeit möglichen Angriffen schutzlos ausgeliefert war. Vermutlich hatte er gewollt, dass etwas seine Schlafzimmertür bewachte, während er sterbliche Seelen sammelte – auch wenn es nur eine reglose Hülle war.
Ich bin also auf mich gestellt. Ihm blieb nur noch eine Möglichkeit.
Reyes erhob sich, schloss die Schlafzimmertür auf und platzte in den Raum.
Die vier Frauen saßen auf dem Bett, hielten sich an den Händen und flüsterten, doch als sie ihn erspähten, schwiegen sie. Sie wurden blass. Eine japste erschrocken. Die Jüngste, eine hübsche kleine Blondine, stellte sich auf ihre sichtbar zitternden Beine und nahm eine
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