Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
ihn ganz klar vor mir. Er wollte mit einem Boot los. Das war es!«
Agnes lächelte ihn dankbar an. »Als der Schmied das Boot nahm, war das gleich, nachdem Kuneke losgefahren ist? Oder erst einige Zeit später? Oder ist er sogar vor ihr losgefahren?«
Das Kinn klappte herunter, und seine Augen wurden groß. Er schüttelte den Kopf. »Ihr könnt Fragen stellen.«
Agnes war enttäuscht. Sie hatte eine andere Antwort erhofft, eine, die ihren Verdacht gegen den Schmied erhärtete. Der unbeherrschte Schwager hatte anscheinend die Absicht gehabt, Kuneke zu folgen. Gut, auch wenn sie noch keinen Beweis für seine Schuld hatte – es war immerhin klar, dass Dietrich aufgrund seines aufbrausenden Charakters sehr wohl in der Verfassung gewesen war, Kuneke etwas anzutun. Agnes war sich sicher, dass sie auf dem richtigen Weg war. »Wenn doch jemand etwas wüsste!«, sagte sie flehentlich.
»Alle trauern. Aber viele haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben.«
»Vielleicht sollte ich in den nächsten Tagen zur Nonne auf der Wittekindsburg gehen, um dort für die Unglückliche zu beten.«
»Dafür sollt Ihr gesegnet sein. Wenn Ihr dorthin geht, nehmt bitte die Grüße vom Pater Anno mit.«
»Das mache ich gern.«
Mit kurzen Worten beschrieb er ihr den Weg zur Wittekindsburg: Über die Weser, den schmalen Weg am Berg hinauf und dann noch etwa eine Meile auf dem Bergrücken entlang. Man könne die alte, verfallene Anlage nicht übersehen.
Dann verabschiedete sich der Pater herzlich und ging in Richtung der Burg. Agnes schaute noch einen Moment hinter dem kleinen, rundlichen Priester her, der Unverständliches vor sich hinmurmelte. Gäbe es doch mehr Geistliche vom Schlag eines Anno. Es war offensichtlich, dass er jemand war, den das Leid und die Not seiner Mitmenschen nicht kaltließen.
Nach diesem Gespräch war Agnes mehr denn je überzeugt, dass der Schmied äußerst verdächtig war. Wenn sie Ludolf diese neuen Ergebnisse erzählte, würde er ihre Ansicht einfach teilen müssen. Agnes war stolz auf sich. Außer einer Dachabstützung hatte Ludolf doch noch nichts zustande gebracht. Fast nichts. Wenn man das bisschen Wissen aus dem Besuch in der Schmiede überhaupt als Ergebnis bezeichnen konnte.
Oma Schutte
Was Agnes heute wieder für eine Stimmung hatte. Ihr überhebliches Gehabe ärgerte Ludolf. Zum Glück war die Mission auf zwei Wochen begrenzt.
Die Nacht war schlimm gewesen. Erst in den Morgenstunden hatte er ein wenig Ruhe bekommen. Er war müde und wie zerschlagen aufgestanden, jeder Knochen im Leib schmerzte. Er musste an Agnes denken. Gestern Abend war es eigentlich richtig nett mit ihr gewesen. Endlich konnte man mit ihr vernünftig reden. Diese ungewohnte Harmonie wollte er pflegen und Agnes etwas Gutes tun. Daher deckte er den Tisch und bereitete das Frühstück zu.
Gerade als zum Brunnen gehen wollte, um Wasser zu holen, kam Agnes herein. Sofort überschüttete sie ihn mit einem Redeschwall, verkündete ihre neuesten Ergebnisse. Warum nur konnte sie es dabei nicht unterlassen, ihm unter die Nase zu reiben, dass er noch nichts Vergleichbares herausgefunden hatte? Ludolf antwortete lieber nicht. Die Mahlzeit verlief in eisigem Schweigen.
Danach fing er an, Betten für sie zu bauen. Im Schuppen lag genug Holz. Nachdem er die wackeligen und schiefen Gestelle aufgebaut hatte, ging er los, um Heu für die Säcke als weiche Schlafunterlage zu holen. Grimmig stapfte Ludolf den Weg zum Ort hoch und ging, einen Sack unter den Arm geklemmt, auf das nächste Haus zu. Es war um einiges größer als ihre kleine Hütte. Neben dem Haus befand sich ein Stall, offensichtlich ein Kuhstall. Ludolf ging zum Tor und rief hinein. Er hörte das schlurfende Geräusch von Holzschuhen näherkommen.
Aus dem Halbdunkel des Stalls löste sich die Gestalt einer etwas älteren Frau. Ihre fast ergrauten Haare hingen in wilden Strähnen um den Kopf. Ihre Kleidung machte einen erbärmlichen Eindruck. Voller Flicken und vor Schmutz starrend. Sie war überrascht, einen Fremden auf dem Hof zu sehen. Mit beiden Händen griff sie die Forke fester. »Wer biste?«, kam es etwas undeutlich. Die Frau schwankte leicht, hatte einen gläsernen Blick und eine gerötete Nase. Sie machte den Eindruck, als habe sie am Morgen schon ein paar Humpen Bier oder ein, zwei Becher Branntwein getrunken.
»Wir sind gestern in die Hütte dort unten eingezogen.«
Sie schaute in die angegebene Richtung. Sie nickte und ließ die Forke sinken. Nur ein neuer Nachbar,
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