Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
einfach, jemandem ein Siegel aufzudrücken. Ludolf war der gemeine, hinterhältige Bursche, der sie seit Jahren hänselte und ärgerte. Aber dieses Urteil schien plötzlich zu bröckeln. Oder war es nur Verstellung von ihm? Wie sollte sie sich ihm gegenüber verhalten, wenn er nicht mehr dem Bild, das sie von ihm hatte, entsprach? Verzweiflung stieg in ihr hoch. Sie musste das Thema wechseln. »Wie passt das verschwundene Boot dazu? Hat jemand die Frau hier auf dieser Weserseite getötet und ist dann mit dem Boot geflohen?«
»Oder sie ist selbst hinübergefahren und wurde dort getötet. Vielleicht sind wir aber auf der falschen Fährte, und Räuber haben sie überfallen.«
»Möglich. Dann sollte man auch daran denken, dass sie mit dem Boot gekentert sein könnte. Sie schlug mit dem Kopf auf den Bootsrand, wurde ohnmächtig und ertrank.«
Sie grübelten darüber nach, welche weiteren Möglichkeiten sie in Betracht ziehen konnten. Je länger sie darüber nachdachten, desto verwirrender wurde es.
»Kann Kuneke auch fortgelaufen sein? Eine Witwe, allein, mit zwei Kindern, vom Amtmann schikaniert, vom Schwager bedrängt. Sie hat es nicht ausgehalten und ist durchgebrannt.«
»Mit wem?«
»Vielleicht hatte sie einen heimlichen Geliebten, von dem keiner wusste. Zum Beispiel den Händler aus Minden. Sie hat ihn mit Absicht abweisend behandelt, damit es keinem auffällt. Und dann ist sie zu ihm geflohen. Wie es scheint, war er seitdem ja auch nicht wieder hier. Ist das nicht eigenartig?«
»Ohne ihre Kinder? Welche Mutter macht denn so etwas?«
Ludolf brachte die Sprache auf einen weiteren Verdächtigen. Was war eigentlich mit dem Streit zwischen Kuneke und dieser Marie? Es ging um irgendwelche bösen Gerüchte.
»Ja«, antwortete Agnes. »Vielleicht kam es nach diesem Streit später noch zu einer offenen Auseinandersetzung, zu einem Kampf zwischen den beiden Frauen, in dessen Verlauf Marie Kuneke – absichtlich oder unabsichtlich – getötet hat. Das erklärt auch, warum Marie seit einigen Tagen so still ist.«
»Und nun?«, fragte Ludolf.
»Ich werde mit Agnes’ Mutter sprechen.«
»Ich werde bei der Burg Erkundigungen einziehen. Irgendjemanden werde ich schon finden, den ich befragen kann. Wir sind ja neu hier. Da wird es nicht einmal auffällig sein, dass wir neugierig sind und den Ort und die Verhältnisse hier besser kennenlernen wollen.«
»Wenn die Ursache für das Verschwinden Kunekes aber in Minden liegt, so ist es schlecht, von hier aus zu suchen.«
»Lass uns erst einmal anfangen. Wenn die Spur nach Minden führt, können wir dem Bischof immer noch einen Umzug vorschlagen.«
Agnes setzte sich wieder an den Tisch. Sie schob den Becher mit dem Löwenzahn zur Mitte des Tisches. Zupfte an den Blüten herum, bis sie richtig verteilt waren.
»Du magst Löwenzahn?«, fragte Ludolf sie.
Die Scholasterin nickte. Es war ihre Lieblingsblume. Sie erklärte, warum sie gerade diese Blume so mochte. Es war eine kleine, alltägliche Pflanze, man fand sie überall auf den Wiesen. Es gab so viele davon, nichts Besonderes. Aber der Löwenzahn sah wie eine gelbe Scheibe aus, gelb wie die Sonne. Damit holte man sich die Sonne ins Haus.
»Und der Löwenzahn ist auch noch nützlich. Die Blätter kommen als Gemüse in die Suppe. Der Tee aus den getrockneten Wurzeln wirkt verdauungsfördernd, die Giftstoffe werden aus dem Körper herausgespült. Der Aufguss hilft auch gegen Hautbeschwerden, gegen Rheuma und Gicht und wird zur Vorbeugung gegen Koliken getrunken. Und schließlich ist der Saft aus dem Stängel auch gut gegen Warzen.«
Damit stand Agnes auf und reckte sich. Sie gähnte. Der Tag war lang genug gewesen, und jetzt nach dem Essen fühlte sie deutlich, wie müde sie war. »Ich gehe ins Bett.«
»Ich bin auch müde. Wohin willst du? Hier in der Stube schlafen oder in der kleinen Kammer?«
»Die Frage ist falsch gestellt. Es muss heißen Stube oder Schuppen. Dass ich nicht im Schuppen schlafe, ist ja wohl klar.«
»Ist gut, dann gehe ich in die Kammer.«
Ludolf ging zu dem Stuhl, auf dem einige Decken lagen, die sie aus Möllenbeck mitgebracht hatten. Er nahm sich zwei, um daraus für sich eine Schlafstätte herzurichten. Die drei anderen überließ er Agnes. Leider hatte keiner daran gedacht, Stroh oder Heu zu besorgen, damit man damit einen Sack als Matratze füllen konnte. Aber für die eine Nacht würde es schon reichen. Am Vormittag würde er gleich für eine frische Füllung sorgen.
Er war schon an
Weitere Kostenlose Bücher