Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Langsam erholte sich Agnes wieder. Sie atmete mehrfach tief durch. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie war immer der Meinung gewesen, dass man durch einen festen Verstand und genug Selbstbeherrschung auch schwierige Situationen meistern konnte. Das Leben war ein harter Lehrmeister. Wer daher denkt, er stehe, der sehe zu, dass er nicht falle!
»Geht es dir wieder besser?«, fragte die Norme sehr einfühlsam.
Die junge Frau nickte.
»Was ist los? Du hast mich erschreckt.«
Agnes lächelte verlegen. Es half nichts. Sie musste die Wahrheit sagen. Sie erzählte Tante Hildegard also die ganze Geschichte vom Besuch des Bischofs in Möllenbeck bis zu diesem Tag auf der Wittekindsburg: Die Tarnung als Handwerker, ihre vermeintliche Ehe mit Ludolf, die Ergebnisse ihrer bisherigen Nachforschungen.
Nach dem Bericht saßen die beiden einige Augenblicke stumm zusammen, bis Hildegard wieder zu sprechen begann. »Ich habe schon von dem Verschwinden von Kuneke gehört. Ja, sie war an dem besagten Sonntag hier bei mir. Und sie ist gegen Abend wieder gegangen.«
»War an ihrem Verhalten oder bei dem, was sie sagte, etwas Auffälliges?«
Die Inklusin überlegte einen Moment, aber sie musste Agnes gestehen, dass ihr nichts aufgefallen war. Kuneke war wie fast jeden Sonntag gekommen. Sie hatten über dieses und jenes gesprochen. Über die Kinder, über gemeinsame Bekannte, Neuigkeiten von der Burg und aus Minden. Allesbelangloses Zeug. Gegen Nona 19 kam dann noch wie an jedem Sonntag der Pater Caspar von Ilse vom Domkapitel Minden. Zu seinen Aufgaben gehörte der geistliche Beistand für diesen kleinen Rest des Klosters. Und wie jedes Mal beichtete die Verschwundene dann noch beim Pater. Der Nachmittag war nicht anders als sonst verlaufen.
Agnes überlegte: Wenn an dem letzten Besuch nichts Besonderes gewesen war, musste die Ursache für das Verschwinden woanders liegen. Und damit war sie wieder bei den Menschen unten an der Schalksburg. »Kuneke hatte doch Ärger mit dem Amtmann? Könnte da eine Ursache liegen?«
»Das kann ich leider nicht sagen. Ich kenne die Geschichten nur aus der Erzählung von Kuneke. Das soll natürlich nicht heißen, dass ich ihr nicht glaube. Aber wenn man beide Seiten kennt, ist es immer schwer, ein Urteil zu fällen. Ich glaube sogar eher, dass Kuneke nicht alles gesagt hat, was vorgefallen ist. Sie gehört zu den wenigen Menschen, die lieber über Probleme schweigen, als sie vor Unbeteiligten breitzutreten. Sie weiß sehr genau, wann sie im Recht ist. Sie muss nicht für ihre Einstellung werben.«
»Hat sie jemals über den Unfall ihres Mannes gesprochen? Und ob dieser Josef Resenbach da etwas gemauschelt hat?«
»Sie sagte nichts weiter, als dass der Herr Wedekind ihn so schnell wie möglich fortjagen sollte.«
Das war ja nicht sehr ergiebig. Kuneke war in persönlichen Angelegenheiten wohl recht zurückhaltend gewesen. Das hatte man schon im Gespräch mit der Freundin Gisela Wendt rausgehört. Agnes war enttäuscht. Sie hatte damit gerechnet, hier ein paar neue Hinweise zu erhalten. Also brachte sie das Gespräch auf die beiden Verehrer.
Hildegard kannte die Geschichte vom Schmied. Sie verstand Kuneke nur zu gut. Nur weil er der Schwager war, war das noch lange kein ausreichender Grund, ihn zu heiraten. Da gehörte doch ein bisschen mehr zu. So wie Kuneke erzählt hatte, war Dietrich aufbrausend und eifersüchtig. Der wollte eine kleine, dumme Frau, der er alles befehlen und vorschreiben konnte, ohne dass sie Widerspruch erhob. Aber das war nicht Kunekes Art. Sie wusste ganz genau, was zu tun war. Sie nahm die Dinge selbst in die Hand. Sie war eine Ebenbürtige, keine Magd oder Sklavin.
»Das gefällt mir«, platzte Agnes heraus und schlug sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. »Der Mann hätte bei mir auch schlechte Karten.«
»Das glaube ich dir gern. Du warst schon früher sehr selbstständig und etwas – eigenwillig.«
Agnes war ein wenig peinlich davon berührt, wie die Tante über sie dachte. Für manche mochte sie vielleicht eigenwillig erscheinen. Für sie bedeutete das eher, den Willen und die Fähigkeit zu besitzen, ihr Leben so zu gestalten, wie es ihr am besten gefiel.
»Ja, schon gut. Aber was ist mit dem Tuchhändler aus Minden?«
»Es hat sie schon beeindruckt, dass sich ein so angesehener und einflussreicher Mann um sie bemüht hat. Sie, eine Witwe, zwar noch recht jung, aber mit zwei Kindern eines anderen Mannes. Damit hat sie nicht gerechnet. Kuneke sprach
Weitere Kostenlose Bücher