Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
konnte, um in sein Königreich zu gelangen.
Sie kletterte über einen zerfallenen Wall, der sich quer durch den Wald zog. Der gehörte bestimmt zu der alten Fluchtburg, die schon vor Jahrhunderten hier gebaut worden war. Durch die Bäume erkannte Agnes ein paar Gebäude und roch Rauch. Sie musste also ganz in der Nähe des Klosters sein. Oder genauer gesagt, der Reste des Klosters, das vor dreihundert Jahren hier gegründet worden war.
Einige Schritte weiter, und Agnes befand sich auf einer Lichtung, die fast ganz mit Gras und Büschen bewachsen war. Das Gelände fiel leicht nach links in Richtung Süden ab, sodass man wieder einen weiten Blick in die Ebene der Weser hatte. Den ausgetretenen Pfad ein Stück weiter stand eine Kapelle aus dem hier üblichen Sandstein: ein kleines Fenster an der Giebelseite, ein weiteres und eine schmale Tür an der Längsseite.
Jetzt sah Agnes auch eine kleine Holzhütte, aus deren Loch im Dach der Rauch stieg. Sie hatte sich vorher hinter der Kapelle versteckt. Die Hütte war nicht so groß wie ihre eigene Behausung an der Burg, sah aber auf jeden Fall solider aus. Agnes klopfte an die Tür. Nichts rührte sich. Man hörte nur Vogelstimmen. Sie ging zu einem kleinen, mit Sackleinen behängten Fenster, schob dieses zur Seite und schaute vorsichtig hinein. Sie wollte ja niemanden in Verlegenheit bringen. Aber im Halbdunkel des Raumes war keine Menschenseele zu erkennen.
»Seid gegrüßt, meine Liebe«, rief da eine freundliche Stimme von hinten.
Agnes drehte sich um und erblickte eine Frau in Ordenstracht, die mit einem Bündel Holz auf sie zukam. Das musste die Inklusin sein. Sie mochte um die fünfzig Jahre alt sein. Sie trug keine der üblichen Hauben, sodass ihr dunkles, von grauen Strähnen durchflochtenes Haar offen auf den Rücken hinunterhing. Sie lächelte erstaunt. Dann packte sie das Holz rasch neben die Hütte, putzte ihre Hände an der Kutte ab und wandte sich sofort wieder der Besucherin zu.
»Guten Tag, Ehrwürden«, erwiderte Agnes und machte einen höflichen Knicks vor der älteren Frau.
»Wo kommt Ihr her? Ich habe Euch bisher noch nie hier gesehen.«
»Wir wohnen erst seit ein paar Tagen beim Schalksberg. Pater Anno erzählte mir, dass Ihr hier oben wohnt.«
»Ja, das ...« Die Nonne hielt plötzlich inne. Sie kniff die Augen zusammen und sah Agnes genauer an, trat einen Schritt zurück.
»Ist etwas?«, fragte Agnes verstört. Sie konnte sich nicht erklären, warum die andere plötzlich innegehalten hatte. Sie schaute nervös an sich hinunter, ob sie anständig und sauber angezogen war.
»Wir kennen uns«, sagte die Nonne. »Du bist Agnes! Agnes von Ecksten.«
Diese wurde ganz blass. Ihre Lippen bewegten sich, aber kein Wort war zu hören. Die Hände nestelten verstört an ihrer Gürtelschnalle herum. Würde jetzt alles auffliegen? Wie sollte sie das dem Bischof erklären? Wie der Äbtissin? Und Ludolf erst? Der würde noch jahrelang darüber lachen. Wieso kannte diese Nonne sie? Was hatte sie falsch gemacht? Stotternd erklang nur ein »W... wie?«
Die Inklusin bemerkte die Verzweiflung im Blick der jungen Frau und legte ihr beruhigend die Hand auf den zitternden Arm. »Deine Mutter ist meine Base. Daher kenne ich dich, Agnes. Du bist ihr doch recht ähnlich. Als ich vor ein paar Jahren das letzte Mal in Möllenbeck war, warst du schon im Stift. Ohne die Ordenstracht hätte ich dich jetzt kaum erkannt.«
»Tante Hildegard?«, fragte sie vorsichtig.
»Genau. Und wie kommt es, dass du mich besuchen willst? Du sagtest, du kämst vom Schalksberg. Was hat dich denn dahin verschlagen? Und du sagtest
wir
. Heißt das, dass du verheiratet bist und mich nicht zur Hochzeit eingeladen hast?«
Agnes fühlte, wie ihre Beine weich wurden und ihre Knie zitterten. Wenn sie ihre liebe Verwandte nicht beleidigen und verärgern wollte, musste sie alles erzählen. Aber das stand im krassen Gegensatz zu den Anweisungen des Bischofs, keinen Außenstehenden einzuweihen. Ihr Hals war wie zugeschnürt, sie konnte kaum noch atmen. Ihr war schwindelig, alles drehte sich. Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie jetzt am liebsten davongelaufen. Hildegard bemerkte ihre Verwirrung. Schnell griff sie Agnes unter den Arm und führte sie vorsichtig in die Hütte. Agnes folgte ohne Widerstand und wurde auf einen Stuhl gesetzt. Aus einem kleinen Holzbecher gab es einen Schluck kühlen Wassers. Hildegard holte einen zweiten Stuhl, setzte sich ihr gegenüber hin und hielt liebevoll ihre Hände.
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