Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Bestimmt nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihre beiden Kinder verlassen hat, nur um einer Hochzeit mit dem Händler zu entfliehen. Das passt nicht zu ihr. Sie hat Verstand und einen festen Willen und lässt sich nicht so schnell unterkriegen. Solch eine Flucht bei Nacht und Nebel ist unvorstellbar für sie. Ich kenne Kuneke seit ihrer Kindheit. Ich habe ihr nicht nur auf die Welt geholfen, sondern war auch ihre Amme.«
»Ihr schient aber nicht überrascht, als ich nach einem Zusammenhang zwischen dem Charakter der Mutter und dem Verschwinden der Tochter fragte?« Agnes beobachtete die Hebamme ganz genau.
Die hielt wieder inne, überlegte abermals sorgfältig. Schwieg länger als zuvor. War diese Frage jetzt zu viel gewesen? Dann kam doch eine Antwort: »Mechthild war damals viel zu jung, um eine gute Mutter sein zu können. Mit ihren etwa fünfzehn Jahren war sie selbst noch ein unerfahrenes Kind. Sie wusste nichts von Mutterpflichten, von Erziehung oder vom Haushalt. Sie war eher ein verzogenes, kleines Biest, das am liebsten das Unschuldslamm spielte und so die Männer um den Finger wickelte. Egal, ob es Nachbarn oder Durchreisende waren, junge oder alte, Hauptsache, sie trugen Hosen. Sie hat ihren Mann mehr als einmal betrogen. Der war jedoch zu lieb und zu nett, andere nannten ihn zu dumm, um dieses Kind zum Teufel zu jagen. Aber irgendwo hatte sich Mechthild eine schlimme Krankheit eingefangen. Einer ihrer Liebhaber hatte ihr ein schönes Geschenk gemacht. Sie lag mehrere Wochen lang im Bett, gequält von Fieber und Schmerzen. Als Kuneke laufen lernte, ging es ihr wieder besser. Aber mit dem Kinderkriegen war es vorbei. Man munkelte, dass sie nicht mehr mit einem Mann verkehren konnte. Das haben ihr viele gegönnt. Besonders die Ehefrauen im Ort, deren Männer nun vor den Nachstellungen von Mechthild sicher waren. Aber seit dieser Zeit besann sie sich mehr und mehr auf ihre Herkunft. Anstatt Männern hatte sie nur noch ihre Stellung im Sinn. Das wurde zu einer richtigen Besessenheit bei ihr und hat ihr auch den Rest des Ortes zum Feind gemacht.«
Agnes war erstaunt über die offenen Worte. Bei dem Besuch gestern war sie ja sehr freundlich und offen gewesen. Eigentlich richtig nett. Ob die Tragödie ihrer Tochter sie zum Nachdenken gebracht hatte? Vielleicht merkte sie, wie allein sie nun war, ohne ihre Tochter.
Herta redete weiter. »Mechthild kümmerte sich kaum um ihre Tochter, das war ihr zu viel Arbeit, das entsprach nicht ihrem Stand. Jedoch konnte sie es nicht ertragen, wenn sie irgendwo nicht die wichtigste Rolle spielte. Ach, wie oft hat es wegen dieser Eifersucht Streit und Zank in der Familie gegeben!«
»Aber warum denkt Ihr, dass die Mutter Schuld am Verschwinden von Kuneke trägt? Nur weil Mechthild sich viele Feinde gemacht hat, heißt das doch noch lange nicht, dass die Tochter deswegen wegläuft. Ihr sagtet, Kuneke würde niemals ihre Kinder zurücklassen.«
»Ja, ja, das stimmt schon. Aber man muss diese Frau kennen. Wie sie denkt, wie sie mit anderen umgeht. Ganz ehrlich, viele Nachbarn trauen ihr schon einige Gemeinheiten zu, die ein normaler Mensch nicht tun würde.«
»Inwiefern?«
Herta stockte wieder. »Wenn sich eine Tochter nicht zu einer Heirat überreden lässt, wird sie halt dazu gezwungen.« Das klang wie ein böses Märchen, wie es die Großmutter früher immer erzählt hatte.
Agnes war erschrocken. Ihre Mutter hatte ihr früher auch ab und an ein paar Ohrfeigen versetzt, wenn sie frech gewesen war. Da wusste sie auch warum. Aber das war kein Zwang, das war eine Bestrafung für ein ungehöriges Verhalten. »Wie das?«
»Hausarrest. Entweder du sagst ja zu der Heirat oder du bleibst eingesperrt und siehst so lange deine Kinder nicht.«
Einsperren? Die Kinder wegnehmen? Das wäre wirklich grausam. Aber dann müsste sie irgendwo eingesperrt sein! Wo? Bei der Mutter? Agnes wurde immer aufgeregter. Sie konnte kaum noch richtig atmen, das Herz schlug ihr bis in den Hals. Sollte das jetzt die Lösung sein? Sollte der Aufenthaltsort von Kuneke schon lange bekannt sein? Warum waren dann nicht die Nachbarn und Freunde eingeschritten? »Aber wenn Kuneke jetzt ihren Hausarrest bei ihrer Mutter absitzt ... Ich meine, das würde doch den Nachbarn und den eigenen Kindern auffallen!«
»Ganz genau! Das haben wir uns auch schon gedacht! Es gibt hier niemanden, wirklich keine einzige Seele, die Mechthild Fischer bei solch einer Untat unterstützen würde. Wenn irgendeiner
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