Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
nackt und verlassen. Sie legte ihren Kopf an Ludolfs Hals. Wie gut, dass er da war.
»Was ist denn, Kleine?« Ludolf strich ihr sanft durch das Haar. Er spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte. »Das ist die Erschöpfung. Das war zu viel für einen Tag. Lass uns nach Hause gehen. Dann kannst du dich etwas hinlegen, dich ausruhen, und ich koche wie versprochen das Essen.«
»Einen Augenblick, bitte. Es wird gleich bestimmt wieder besser.«
Umschlungen standen die beiden auf der Straße, als wären sie allein auf der Welt. Agnes atmete ein paarmal tief durch. Ihr Zittern und das beklemmende Gefühl ließen nach. Langsam kam sie wieder zu sich.
Ludolf aber war glücklich. Gestern noch war Agnes abweisend gewesen, heute schien es, als seien sie die besten Freunde. Er genoss jeden Augenblick, in dem er sie berühren, umarmen und halten konnte. Hoffentlich war es nicht nur Dankbarkeit, weil er sie heute in Minden gerettet hatte. Das war ihm zu wenig. Er wollte ihr nahe sein, ganz nahe, für immer und ewig.
Nach einem letzten tiefen Seufzer löste sich Agnes aus der Umarmung. Sie schüttelte ihre Haare kurz aus und warf sie nach hinten, als wolle sie damit anzeigen, dass sie jetzt wieder für die täglichen Geschäfte bereit war. »Du standest doch näher. Du hast doch das Gerede besser verstanden. Sprach der Amtmann von Beweisen?«
»Ja. Und das macht mir Sorgen. Was weiß er?«
»Ist das so wichtig? Wir haben Kuneke gefunden, und er hat das Glück gehabt, den Mörder zu finden.«
»Das kann ich nicht glauben. Erst tut er so, als gehe es ihn nichts an und verhindert eine genauere Suche. Und jetzt plötzlich drängt es ihn so, den Mörder zu finden? Da stimmt doch was nicht.«
»Du glaubst ihm nicht, weil du ihn nicht magst.«
»Du denn?«
Agnes tippte sich an die Stirn. »Aber dem Schmied traue ich noch weniger. Er ist so jähzornig, so unbeherrscht. Er kann es wirklich gewesen sein.«
Ludolf brummte vor sich hin. »Du hast ja recht, Agnes. Aber er liebte seine Schwägerin. Und wütend zu werden, ist etwas anderes, als jemanden umzubringen.«
»Woher weiß er eigentlich, dass Kuneke tot ist? Das haben doch selbst wir bis heute Nachmittag nicht gewusst?«
»Das ist eine gute Frage.«
Es musste einen Augenzeugen gegeben haben, der den Überfall auf Kuneke beobachtet hatte. Die Frage war nur, warum sich dieser Zeuge erst heute gemeldet hatte. Es war doch allgemein bekannt gewesen, dass Kuneke verschwunden war. Nachbarn und Freunde hatten nach ihr gesucht. War der Zeuge jemand, der auf Reisen gewesen und erst heute zurückgekommen war? Oder hatte sich einer aus bestimmten Gründen nicht getraut? Der Schmied war von diesem gedeckt worden, weil ...?
Ludolf schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn und stampfte wütend auf den Boden. »Oh, Mist! Ich Esel! Warum habe ich nicht gleich daran gedacht?«
»Was meinst du?«
»Habe ich dir nicht erzählt, dass sich der Amtmann und dieser eine Fischer, du weißt schon ...?«
Agnes nickte, während Ludolf hastig fortfuhr: »Die beiden haben sich wegen der Boote unterhalten, die an dem besagten Abend fehlten, als Kuneke verschwand.«
»Genau! Ein Boot Kuneke, ein Boot der Schmied, und mit dem dritten war Marie unterwegs. Sie kam heulend zurück.«
»Der Amtmann sagte so etwas wie: Bald hab’ ich ihn. Und damit meinte er den Dietrich. Er wollte zu Marie, um sie zum Sprechen zu bringen.«
Jetzt begriff Agnes. Ihre Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. »Das muss es sein! Marie ist in den Schmied verliebt, der aber nichts von ihr wissen will. Sie wollte ihn an diesem Sonntagabend für sich gewinnen. Aber stattdessen hat sie gesehen, wie der von ihr verehrte Dietrich Kuneke erschlagen hat. Darum hat sie bei der Rückkehr geweint. Und weil sie ihn so sehr liebte, hat sie geschwiegen.«
Ludolf zog die Luft hörbar ein. »Das kann hinhauen. War zwar nicht so ganz mein Gedanke.«
»Wenn ich schon mal einen Vorschlag habe!«
»Ach, so meine ich das doch nicht. Du kannst damit wirklich recht haben. Angenommen, Marie wollte ihn nicht nur treffen, sondern hat sogar mit ihm gesprochen. Jedoch hat sie wieder eine Abfuhr bekommen. Marie kommt heulend zurück und nichts weiter geschieht. Fürs Erste. Aber dann erfährt sie viel später, dass der Amtmann ihren Geliebten in Verdacht hat. Da denkt sie sich: Damit kann ich Dietrich zwingen, mich zu lieben. Entweder er sagt Ja, und ich schwöre, dass er die ganze Zeit mit mir zusammen war. Oder, wenn er ablehnt, verrate
Weitere Kostenlose Bücher