Die Herrin der Pyramiden
Finsternis in das Grab hinabgestiegen waren, entzündete mein Vater die beiden Fackeln mit einem ölgetränkten Tuch und einem Feuerstein.
Die Vorkammer war unverändert. Dann krochen wir weiter bis zur eigentlichen Grabkammer.
»Siehst du es, Nefrit?«
Ich hielt meine Fackel hoch, um besser sehen zu können. Der mit Gipsmörtel kaschierte Riss hatte sich auf fast vier Finger Breite vergrößert. Er lief vom glatten Boden der Grabkammer bis zum Gewölbe hinauf. »Ich sehe es, Vater.«
»Wir können es nicht länger geheim halten. Die Kammer ist endgültig unbrauchbar.«
»Wir können die Pyramide nicht aufgeben, Vater!«
»Was sollen wir tun, Nefrit?«
»Die Schäden betreffen nur das Fundament der Pyramide, aber nicht die darüber liegenden Steinlagen. Die Grabkammer ist beschädigt, nicht aber die Pyramide darüber. Wir bauen einfach eine zweite Grabkammer und erklären diese Kammer zur Vorkammer. Dann kann Seneferu trotzdem in dieser Pyramide bestattet werden.«
»Eine dritte Kammer? Wo soll sich die befinden, Nefrit? Über uns befinden sich über dreißig Steinlagen! Wir können keine weitere Kammer in das Plateau graben.«
»Dann graben wir sie eben nicht unterhalb der Pyramide, sondern konstruieren sie innerhalb der Pyramide! Wir errechnen die statisch stabilste Lage für einen weiteren Hohlraum, entfernen an dieser Stelle einige Steinschichten und schaffen eine weitere Kammer.«
»Und wie soll Seneferu diese Kammer nach seinem Tod beziehen können? Die dritte Kammer hat keinen eigenen Grabkorridor.«
»Wir graben einen Gang zwischen der neuen Kammer und dieser hier. Die alte Grabkammer wird die Grabbeigaben aufnehmen, die neue wird nur den Sarg enthalten. Dann hätten wir doch noch die Möglichkeit, den mittlerweile fertig gestellten Granitsarkophag in die neue Kammer zu bringen.«
Wir kehrten in das Zelt des Bauleiters zurück und begannen die Pläne zu ändern. Die neue Grabkammer befand sich inmitten der ersten Steinlagen oberhalb des Pyramidenfundamentes. Sie hatte ein wesentlich höheres Gewölbe, das den Druck der unter Spannung stehenden Pyramide noch effektiver abfangen musste als die beiden anderen Gewölbe. Ich trug die neue Kammer in den Bauplan ein und verband das Kammersystem in Höhe des Gewölbes der alten Kammer durch einen steil aufsteigenden Korridor.
»Damit ist die neue Grabkammer für Grabräuber völlig unzugänglich. Das Gewölbe der alten Kammer ist über fünfunddreißig Ellen hoch.«
Wir beschlossen, dass mein Vater am nächsten Morgen um eine Audienz beim Wesir nachsuchen sollte, um sich diese erneute Änderung genehmigen zu lassen, die er mit der erhöhten Sicherheit in der Pyramide ohne zusätzlichen Kostenaufwand begründen wollte. Eine Genehmigung durch Wesir Nefermaat schien uns sicher.
Und tatsächlich: Nefermaat stellte keine unangenehmen Fragen. Bei meinen letzten Besuchen war mir bereits aufgefallen, dass er sich nur ungern auf den endlosen Kampf mit meinem Vater wegen Neigungswinkel, Arbeitstempo und Fertigstellungsterminen einließ. Ich vermutete, dass er wichtigere Aufgaben zu erfüllen hatte.
Fast täglich stieg ich nun über die Baurampe hinauf auf die oberste Plattform und überwachte die Ausschachtungsarbeiten für die neue Grabkammer, die über fünfzehn Steinlagen tief in den Pyramidenkern versenkt wurde.
Geduldig überstand ich die Flüche der Steinverleger, die unter gewaltigen Anstrengungen die tonnenschweren Steinquader aus den Steinlagen herausbrechen mussten, die sie im Schweiße ihres Angesichts erst vor wenigen Wochen zu Beginn des Sommers verlegt hatten. Nicht nur einmal hörte ich abfällige Äußerungen über die Planung der Bauleitung, deren Lautstärke gerade so gewählt wurde, dass ich sie hören musste. Die Vorarbeiter griffen hart durch und mehrere Arbeiter wurden durch Stockschläge bestraft. Wenn etwas auf einer Baustelle dieser Größe nicht fehlen durfte, dann war das Disziplin.
Gerade weil die Unruhe der Arbeiter sich schnell auf der gesamten Baustelle herumsprach, verbrachte ich meine gesamten Tage auf der obersten Plattform, bis der Schacht der neuen Grabkammer die vorgesehene Tiefe erreicht hatte. Ich ließ ein kleines Zelt auf der Plattform errichten, in dem ich meinen Schreibtisch aufstellte, um nebenbei arbeiten zu können. Ich koordinierte die Aufgaben der Vorarbeiter und Steinschlepper, die um den entstehenden Schacht herum die Steinlagen der obersten Plattform errichteten. Nach nur wenigen Tagen hörte ich
Weitere Kostenlose Bücher