Die Herrin der Pyramiden
hat.«
»Dein Vater, Prinzessin? Der Lebendige Gott?«
»Seneferu Nebmaat, der Herr der Weltordnung: mein Vater.«
»Wann hat er mich so genannt?«
»Anlässlich des Tempelweihfestes des Atum.«
»Der Lebendige Gott hat mich nicht einmal angesehen.«
»Da irrst du dich, Nefrit! Der ganze Hofstaat hat dich angestarrt. Und du warst das Gesprächsthema beim Abendessen. Rahotep war wütend. Deshalb bist du heute hier. Wenn du erlaubst, will ich dir gern die wichtigsten Überlebensregeln erläutern, Nefrit. Gönnen wir Reni einen freien Nachmittag.«
Als Reni sich verabschiedet hatte, um sich seinen anderen Aufgaben zu widmen, nahm mich Merit bei der Hand und führte mich durch endlose Gänge in die Halle des Horus-Throns. »Wir werden hier üben, Nefrit. Das ist angemessen.«
Ich verbeugte mich lächelnd vor ihr.
»Begib dich an das Ende des Saales und stell dir vor, dass dir der König, die Große Gemahlin, zweihundert Würdenträger und fünfzig Gesandte aus den Fremdländern zusehen!«
Ich ging ans andere Ende des Thronsaales, wie sie mir befohlen hatte.
»Was hast du gerade getan, Nefrit?«
»Ich bin hier herübergegangen.«
»Das habe ich gesehen! Eine Prinzessin geht nicht, sie schreitet. Komm wieder zurück!«
Gemessenen Schrittes bewegte ich mich auf sie zu.
»Schon besser! Und nun üben wir die zeremonielle Verbeugung vor dem Lebendigen Gott.«
Ich kniete mich auf den Boden und drückte meine Stirn gegen die Bodenplatten der Halle des Horus.
»Nefrit, du bist eine Prinzessin und musst den Boden nicht küssen. Es reicht, wenn du dich verbeugst. Wenn du bemerkt wirst, kannst du den Kopf heben.«
»Woher weiß ich, dass ich bemerkt wurde?«
Sie ignorierte meine Frage. »Wenn du angesprochen wirst, antwortest du. Ergreife niemals das Wort vor dem König.« Merit nahm meine Hand und zog mich zu den Stufen hinüber, auf denen der Thron stand. »Nun steige hinauf zum König!«, befahl sie mir. Das war die zeremonielle Bezeichnung für eine Audienz bei Seiner Majestät.
Ich schritt auf die Stufen zu. Bisher hatte ich wenig Gelegenheit gehabt, Treppen zu benutzen. Ich hatte mehr Erfahrungen, die hohen Steinlagen einer Pyramide hinaufzuklettern. Ähnlich muss mein Hinaufsteigen ausgesehen haben, denn Merit lachte. Immer wieder ließ sie mich hinauf- und hinabsteigen, bis meine Bewegungen anmutig genug waren für eine Prinzessin.
»Eine Prinzessin kommt nicht, sie erscheint. Sie geht nicht, sie schreitet. Sie kniet nicht, sondern verbeugt sich. Sie setzt sich nicht, sie lässt sich nieder.« Merit deutete auf den Thronsessel.
Ich zögerte. »Das ist der Thron der Beiden Länder …«
»In erster Linie ist das ein Stuhl. Es kommt darauf an, wer sich darauf niedergelassen hat. Wenn mein Vater darauf sitzt, ist es der Thron der Beiden Länder. Wenn du darauf sitzt …«
In diesem Augenblick öffnete sich das Portal der Halle des Horus, und die Große Gemahlin Hotephores stand mit zwei Hofdamen in der Türöffnung. Sie zog die Augenbrauen hoch, als sie mich auf dem Thron sah.
»Ich habe dich überall suchen lassen, Merit! Dein Vater will mit dir sprechen.« Mit einem Seitenblick zu mir sagte sie: »Nefrit wird einstweilen allein zurechtkommen.«
Meine schlimmsten Befürchtungen wurden wahr, als ich wenig später endlich zu Rahotep vorgelassen wurde. Als ich den Arbeitsraum des Prinzen betrat, beugte er sich mit Khufu und Djedef über eine Karte des Reiches.
»Wenn die neuen Barken fertig wären, könnten wir beide Regimenter auf dem Fluss stromaufwärts verlagern«, warf Khufu in eine offenbar heftig geführte Diskussion der drei Männer ein.
»Wenn … wenn! Die Barken sind aber nicht fertig!«, brauste Rahotep auf. »Aserkaf und ich haben unser Möglichstes getan, um die Schiffe rechtzeitig zu bauen, aber die Holzlieferungen verzögern sich immer wieder.«
»Wann kann mit der Fertigstellung gerechnet werden?«, fragte Djedef die beiden Prinzen.
»Ich schätze, dass die Barken in einem halben Jahr fertig werden«, sagte Rahotep.
»So lange können wir nicht warten! Der König ist ungeduldig. Das Schatzhaus ist beinahe leer, und unser Vater muss die Goldminen in Kusch wieder in seine Gewalt bringen, sonst droht dem Land Kemet der finanzielle Ruin.«
»Reicht das Gold noch aus, um die neue Pyramide fertig zu stellen?«, fragte ich.
Erst jetzt bemerkten mich die drei.
»Nefrit, was tust
du
hier?«, fragte Rahotep überrascht.
»Ich wollte mich nach dem Stand der Kriegsvorbereitungen
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