Die Herrin Thu
ich nicht überklettern, und seine Gärtner beschnitten die Bäume so gewissenhaft, daß nichts über die Mauer auf den Weg hing. Es gab nur einen Weg, nämlich durch seinen Pylon, und das hieß, ich mußte die Wachtposten am See umgehen. Der Himmel wurde dunkler, und nacheinander wurden helle Sterne sichtbar. Unter ihrem Gefunkel ging ich das kurze Stück zurück, das ich bereits auf dem Weg gegangen war, und strebte dem Wasser zu. Doch noch konnte ich nicht versuchen, es mit den Wachtposten aufzunehmen. Ich würde mich unter den ausladenden Sykomoren verstecken, die Vorbeigehenden Schatten spendeten, bis die Wache wechselte. Dann würde ihre Aufmerksamkeit nachlassen, und ich konnte mich hoffentlich an ihnen vorbeischleichen.
Ich mußte lange mit dem Messer im Schoß warten. Durch das Blattwerk konnte ich die beiden Männer zu jeder Seite des Wegs sehen und bekam ihre sporadische Unterhaltung mit. Sie langweilten sich, waren müde und wollten nur noch zurück zum heimischen Herd und einem warmen Essen. Der Verkehr auf dem Fluß nahm zu, denn die Bewohner des Seeufers bestiegen ihre geschmückten Boote und Barken zu einem Festabend, und für eine geraume Weile galt das auch für den Weg. Im Fackelschein zogen Grüppchen an mir vorbei wie schimmernde Schmetterlinge, in eine seichte, läppische Unterhaltung vertieft, und ich neidete ihnen ihre Vorrechte mit einer Verbitterung, die ich in der Verbannung im Griff gehabt hatte und die jetzt mit ihrer ganzen bösen Macht zurückkehrte. Ich war reicher als sie gewesen, höher gestellt als sie, und mit zusammengebissenen Zähnen ermahnte ich mich, daß ich das alles durch eigene Schuld verloren hatte. Aber nicht nur durch eigene Schuld. Mit kalter Vorfreude beobachtete ich, wie sich die Posten für die Nacht näherten.
Die vier Männer bildeten eine Gruppe, die abgelösten Wachtposten erstatteten Bericht. Leise stand ich auf und watete im Wasser an ihnen vorbei, ohne sie aus den Augen zu lassen. Ich mußte langsam gehen, weil ich keine Plätschergeräusche machen durfte, und in dem freien Raum zwischen den Bäumen ging ich in die Hocke, damit ich mich nicht vor dem Himmel abzeichnete. Ein Stückchen weiter erreichte ich ohne Zwischenfälle wieder den Weg. Sie unterhielten sich noch immer. Als ich auf einer Wegbiegung außer Sicht war, seufzte ich vor Erleichterung und strebte Huis Eingang zu.
Der Abend war noch jung, und da fiel mir ein, Hui könnte Gäste haben. Um so besser. Dann konnte ich im Garten umherwandern, vielleicht ein wenig schlafen, und wenn er dann sein Lager aufsuchte, würde er nicht so schnell aufwachen, wenn ich mich durch ein Geräusch verriet. Im Geist ging ich die Aufteilung seines Hauses durch, überlegte, wo ich am besten hineinging, und als ich mich dann für den abgelegenen Hintereingang entschieden hatte, stand ich auch schon vor seinem Pylon.
Zwar hatte ich mir vorhin eingeredet, ich hätte keine Angst vor seiner Sehergabe, aber jetzt blieb ich doch stehen. Der Mond schien nicht, und trotzdem warf sein Pylon einen düsteren und irgendwie bedrohlichen Schatten, und der Garten dahinter verlor sich im Dunkel. Ich blickte mich nach dem alten Türhüter um, der in seiner Nische gleich hinter den steinernen Pfosten lauerte, und sah den schwachen Schein seines Feuers. Falls sich der Mann Essen kochte oder nur in die Glut blickte, war er zeitweise nachtblind. Du bist dumm, Hui, sagte ich mir grimmig lächelnd, während ich unter dem Pylon durchschlüpfte und sofort auf das Gras trat, das zu beiden Seiten des Weges wuchs und meine Schritte dämpfte. Dummer, hochfahrender Hui. Jedes Tor in dieser Gegend hat Wachtposten, nur deines nicht. Was macht dich so sicher?
Als sich das Gebüsch um mich schloß, war ich vorübergehend ratlos, doch meine Füße wußten, wo sie sich befanden, und ich war noch nicht weit gegangen, da ließ die Verwirrung nach. Ich war hinter einer der Hecken, die den Weg zum Haus säumten. Vor meinem inneren Auge sah ich die ganze Anlage: den Thot-Schrein, den Fischteich inmitten von Blumenbeeten linker Hand, den größeren Teich, in dem ich jeden Morgen, angefeuert von Nebnefers kritischen Bemerkungen, meine Bahnen geschwommen hatte. Und am Ende eine niedrige Mauer, die den Garten von Hof und Haus trennte. Ich blieb auf dem Gras und ging geräuschlos am Fischteich vorbei, dessen Seerosen- und Lotosblätter auf dem trüben Wasser nur undeutlich auszumachen waren, und als ich mich durch das dichte Gebüsch zwängte, das zwischen den
Weitere Kostenlose Bücher