Die Herrin Thu
abzuliefern. Er jedoch blickte sich um, sah mich dort stehen und winkte mich mit dem Daumen weiter.
Hier, in diesem Geviert, hatte ich gewohnt. Hier hatte ich mit Hunro eine Zelle geteilt. Ich brauchte keine Fackel, die mir zeigte, wo der Springbrunnen war, wo der Rasen den offenen Gang freigab, der an jeder kleinen Tür vorbeiführte. Ich blickte hoch. Da standen die gleichen Sterne noch immer über der schwarzen Dachkante. Der gleiche Wind fuhr durch das Gras unter meinen Füßen und wehte mir einen schwachen Hauch von Parfüm und Gewürzen in die Nase. Falls ich bei Tageslicht hier hergekommen wäre, hätte ich mich möglicherweise an der Wirklichkeit festhalten können. Doch jetzt umgab mich eine warme Dunkelheit, in der mein Hirn die verschwommenen Formen meiner Umgebung wahrnahm und sie sofort als ganz und gar vertraut einordnete. Meine Nase, die Sohlen meiner nackten Füße, der Rest meiner Haut vermittelten meinen Sinnen Eindrücke, die für einen Augenblick die Zeit verschwinden ließen und mich für einen entsetzlichen Augenblick im wahrsten Sinne des Wortes irremachten. Vor der geöffneten Tür einer der Zellen, aus der gelbes Licht fiel, blieb der Haushofmeister stehen. „Der Hüter der Tür erwartet dich“, sagte er und machte kehrt. Ich trat in den Schein der Lampe.
Er hatte sich kaum verändert. Schon damals hatte er alterslos auf mich gewirkt, und er hielt sich noch immer anmutig locker und gebieterisch. Nur die tieferen Fältchen um seine wachsamen, schwarzen Augen und der schmaler gewordene Mund machten deutlich, daß siebzehn Jahre vergangen waren.
Er stand auf, als ich mich wie betäubt näherte. Dabei fiel ihm der blaue Schurz, an den ich mich noch so gut erinnerte, bis auf die Knöchel, und die schwarze Perücke mit den vielen steifen Wellen legte sich auf seine Schultern. Breite Goldarmbänder reichten von den Ellenbogen bis zu den Handgelenken, und auf seinen langen Fingern glitzerten Ringe, als er mühelos vom Stuhl aufstand. Er lächelte. „Sei gegrüßt, Thu“, sagte er.
„Sei gegrüßt, Amunnacht“, flüsterte ich und verneigte mich vor ihm, denn ich hatte große Achtung vor seiner Klugheit und Weisheit. Als der mächtigste Mann im Harem war er für Frieden und Ordnung unter den Hunderten von Frauen, die unter seiner Obhut standen, verantwortlich und allein dem Pharao haftbar. Wenn er wollte, konnte er eine Nebenfrau hoch in der Gunst des Pharaos steigen lassen oder sie dem ewigen Vergessen anheim geben. Er hatte mich gemocht, und aus Liebe zu seinem königlichen Gebieter hatte er meine Sache beim Pharao gefördert, hatte daran geglaubt, daß ich gut für ihn wäre. Doch ich hatte ihm geschadet. Ich hatte auch Amunnachts Vertrauen verraten, und dennoch war er es gewesen, der mir auf Befehl des Pharaos das lebensspendende Wasser gebracht hatte, als ich im Gefängnis im Sterben lag, und er hatte mir den Kopf gehalten und mich beruhigt und getröstet. Eine solche Vergebung hatte ich nicht verdient. „Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, konnte ich dir nicht für deine unverdiente Güte danken“, sagte ich stockend, „und auch nicht dafür, daß du dich darum gekümmert hast, daß mein Schutzgott Wepwawet meinen Sohn in sein neues Heim begleitet hat. Und weil du das getan hast, habe ich ihn gefunden. Ich habe dich sehr enttäuscht, und es tut mir leid. All die Jahre hat es mir auf der Seele gelegen, daß ich mich nicht bei dir bedankt habe.“ „Tritt näher, Thu“, forderte er mich auf. „Setz dich. Ich lasse dir ein einfaches Mahl holen. Es ist zwar sehr spät, aber vielleicht möchtest du vor dem Schlafengehen noch etwas essen. Man hat mir erst vor kurzem mitgeteilt, daß man dich gefunden hat.“ Ich gehorchte, denn ich war noch immer nicht ganz angekommen, und seine und meine Worte wirkten wie zu einer anderen Zeit von anderen gesagt. „Ob du mich enttäuscht hast oder nicht, spielt keine Rolle mehr“, fuhr er fort, setzte sich wieder und schlug die Beine übereinander. „Für mich bist du mein größter Reinfall gewesen, und ich habe mich nicht nur wegen deines Schicksals gegrämt, sondern auch wegen meines damaligen Mangels an Urteilsvermögen. Ich bin meinem Gebieter verpflichtet und kümmere mich nach besten Kräften um seine Bedürfnisse, und daher hat seine Enttäuschung mir den meisten Kummer bereitet.“ Er ordnete die blauen Falten seines feinen Schurzes über den Knien. „Er hat deinen Tod angeordnet, und ich habe mitgeholfen, deine Habe zu verteilen.
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