Die Herrin von Avalon
die Seelen deiner Feinde besiegt. Seid unsere Zeugen, ihr, die ihr Britannien und Rom dient!«
»Ich bezeuge es«, sagte Carausius.
»Ich bezeuge es!« hörte man Allectus mit klarer, heller Stimme antworten.
»Auch ich bezeuge es«, erklärte Cerialis feierlich.
Dierna nahm die Worte mit einer leichten Neigung des Kopfes entgegen. Carausius dachte, eine Herrscherin hätte sich auf diese Art bei ihren Untertanen bedankt. Er vermutete, daß die Herrin von Avalon in ihrem Reich einer Kaiserin ebenbürtig sei. Ist sie wirklich die Frau in Weiß auf den Wellen? Wenn ja, ist es ihr bewußt, daß sie mich gerettet hat?
Ihr Verhalten ihm gegenüber machte ihn unsicher. Er wußte nicht, ob sie ihn mochte oder ihm nur auf Grund seiner Stellung die gebührende Achtung erwies.
Die Priesterinnen begannen, das Gelände in feierlich schwebenden Schritten abzugehen und zu weihen. Das Läuten der Silberglöckchen wurde leiser, als sie sich von der Gruppe entfernten. »Wie lange müssen wir hier stehen?« fragte Cerialis nach einer Weile. Die Priesterinnen hatten die erste Ecke erreicht, blieben stehen und erwiesen den Geistern der Erde ihre Ehrerbietung.
»Ich verstehe nicht, warum sie uns als Zeugen braucht. Es gibt doch nichts zu sehen.«
»Nichts?« flüsterte Allectus mit bebender Stimme. »Fühlst du es nicht? Sie beschwören eine Mauer der Kraft. Siehst du nicht das Leuchten in der Luft, wenn sie gehen?«
Cerialis hüstelte und warf einen verlegenen Blick auf den Navarchen, als wollte er sagen: Nun ja, er ist noch ein Junge und hängt seinen Träumen nach ...
Carausius lächelte jedoch nicht über den jungen Mann. Er hatte die Herrin von Avalon mitten im Sturm auf dem Meer gesehen. Jetzt bemerkte er nichts Außergewöhnliches, aber Allectus mochte mit dem, was er sagte, durchaus recht haben.
Sie warteten, während die Priesterinnen langsam weiterschritten, das andere Ende des Rechtecks erreichten und sich ihnen wieder näherten. In der langen Abenddämmerung des Nordens veränderten sich die Farben des Sonnenuntergangs von Gold zu Rosa und weiter zu Purpur, als habe jemand den Mantel eines Kaisers über den Himmel gebreitet. Die Prozession der Priesterinnen bewegte sich langsam auf die Stelle zu, wo das große Tor sein würde.
»Komm, denn du wirst diesen Platz gegen unsere Feinde verteidigen müssen!« rief die Hohepriesterin. Im ersten Augenblick verstand Carausius nicht, was sie meinte. Dann bemerkte er, daß sie auf ihn deutete, und ging auf sie zu.
Als er sie erreicht hatte, blieb er vor ihr stehen. Ihr Gesicht verschwand hinter dem dünnen Schleier, aber er fühlte ihren Blick auf sich gerichtet.
»Was gibst du, Mann des Meeres, um die Menschen in diesem Land zu schützen?« fragte sie leise, aber der Unterton in ihrer Stimme beunruhigte ihn.
»Ich habe gelobt, das Römische Reich zu verteidigen«, begann er, aber sie schüttelte den Kopf.
»Nicht der Verstand wird dir helfen, sondern dein Herz«, erwiderte sie ebenso leise. »Ich frage dich, wirst du, wenn nötig, dein Blut opfern, um das Land zu verteidigen?«
Das Land ...
In den vergangenen Jahren, in denen er die Flotte befehligte, die den Kanal überwachte, war ihm Britannien in der Tat ans Herz gewachsen, wie es bei einem Soldaten der Fall sein kann, der sehr lange an einer Stelle stationiert ist. Aber davon sprach sie nicht.
»Ich bin in einem Land geboren worden, das auf der anderen Seite des Meeres liegt. Bei meiner Geburt wurde ich im Namen der Götter jenes Landes gesegnet ... « erwiderte er leise.
»Aber du bist über das Meer gekommen, und das Leben ist dir durch die Gnade der Göttin, der ich diene, noch einmal geschenkt worden«, sagte Dierna. »Erinnerst du dich?«
Er sah sie aufmerksam an. Durch den Schleier hindurch glaubte er, die Züge der Frau in Weiß zu erkennen. »Du bist es gewesen?«
Sie nickte ernst. »Jetzt verlange ich von dir den Lohn. Deinen Arm!« Es war ein Befehl, und der Mann, der mit einem Wort die ganze britannische Flotte in den Kampf schicken konnte, gehorchte.
Im Fackelschein sah er ein kleines halbrundes Messer in ihrer Hand funkeln. Noch ehe er eine Frage zu stellen vermochte, schnitt sie ihm in die weiche Haut auf der Innenseite des Arms. Er nahm den Schmerz kaum zur Kenntnis und sah, wie dunkles Blut aus der Wunde quoll und auf die Erde tropfte.
»Du nährst die Erde, so wie sie dich genährt hat«, flüsterte die Hohepriesterin. »Blut gegen Blut, Seele gegen Seele. So, wie du dazu verpflichtest bist,
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