Die Herrin von Sainte Claire
»Fürchtet Ihr Euch davor, von einer Frau besiegt zu werden?« höhnte sie.
Rorik schüttelte den Kopf und sah sie an. Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Ihr könnt mich nicht besiegen, Mylady.«
Abschätzig kräuselte sie die Stirn. »Dann müßt Ihr Euch vor nichts fürchten. Nicht wahr? Wir treffen uns beim ersten Morgengrauen.« Sie blickte ihn, wie sie hoffte, verächtlich genug an und wandte ihm den Rücken zu.
Alaine erwachte, als das Morgenlicht die Sterne übertünchte. Bruchstückhaft erinnerte sie sich an Alpträume. Ein Gefühl der Angst lastete auf ihrem Gemüt. An einige Traumfetzen konnte sie sich noch entsinnen. Sie und Sir Rorik kämpften um Ste. Claire, aber nicht mit Pfeil und Bogen, sondern mit dem Schwert – und es ging auf Leben und Tod.
Alaine wickelte sich aus der Decke, streifte die Blätter aus ihrem Haar und schritt auf den Bach zu. Das eiskalte Wasser, mit dem sie ihr Gesicht benetzte, konnte den Alptraum nicht vertreiben, der sie wie in einem Spinnennetz gefangenhielt.
Die Sonne sandte schon ihre ersten Morgenstrahlen durch die Bäume, da faßte Alaine endlich den Mut, ihrem Gegner gegenüberzutreten.
»Wenn ich Euch die Fesseln löse, versprecht Ihr mir dann bei Eurem Ehrenwort, nicht zu fliehen oder auch keinem einzigen Menschen in diesem Lager ein Leid anzutun?«
Sein schiefes Lächeln war ebenso spöttisch wie in ihrem Traum. »Ja. Mein Ehrenwort.«
Sie schnitt seine Fesseln durch und begab sich dann zu Sihtric. Der große Ritter bleckte die Zähne und knurrte leise, dann stieß er ein so unangenehmes Lachen aus, daß sie zurückschreckte.
»Benehmt Euch!« befahl sie mit wackliger Stimme, »oder ich lasse Euch beide in Eurem Saft schmoren!«
»Mir scheint, die junge Maid erzittert vor uns, Rorik«, lachte Sihtric.
Rorik hob hochnäsig die Brauen und blickte ihr fest in die Augen. »Sie sollte ruhig noch mehr erzittern, mein Freund.«
Alaine schleuderte das Messer in Roriks Richtung. Die Klinge bohrte sich einen Zoll weit vor Roriks Fuß. »Schneidet selbst die Fesseln dieses Ungetüms durch! Und merkt Euch, keine Täuschung. Ihr habt Euer Ehrenwort gegeben.« Sie stolzierte davon und gab den knappen Befehl, den Gefangenen Nahrung zukommen zu lassen.
Die Stätte ihres Wettkampfes war ein offenes Gelände am Bachufer gegenüber dem Lager. Sir Geoffrey, entgegen der üblichen Gepflogenheit bei den Rittern, hatte immer auf die Fertigkeit seiner Mannen im Bogenschießen bestanden. Aber jeden einzelnen von ihnen hatte Alaine besiegen können. Gewiß würde sie auch über diesen Mann den Sieg erringen. Sie hob die Augen und sah in Sir Roriks spöttisches Gesicht.
»Seid Ihr Euch sicher, daß Ihr nicht aufgeben wollt, meine verehrte Geächtete?«
Alaines Augen schmälerten sich bedrohlich. »Die Lage, in der Ihr Euch befindet, bietet kaum Anlaß, meine Niederlage zu erklären, Herr Usurpator. Und nach diesem Wettkampf noch weniger.«
Sir Rorik schüttelte den Kopf über die Torheit der Frauen.
Die Zielscheiben standen auf ihrem Platz. Die beiden Wettkämpfer stellten sich nun in ihre Positionen. Der Wettkampf folgte einfachen Regeln. Die Beteiligten würden abwechselnd schießen, bis der Sieger feststand. Das dürfte nicht allzulange auf sich warten lassen, dachte Alaine.
Rorik kam als erster an die Reihe, was Alaine einen Stich gab. Sein Pfeil krachte donnernd ins Schwarze. Er lächelte sie eisig an, als sich ihre Augen vor Erstaunen weiteten. Dann aber blickte er seinerseits ziemlich verdutzt, als ihr Pfeil ebenso zielgerecht traf.
Zwei Männer eilten, um die Zielscheiben wieder auf ihre Plätze zu stellen. Der Wettkampf ging weiter. Immer wieder rannten zwei Männer los, um die Zielscheiben erneut auf zustellen. Der Nebel hob sich, und eine kalter Wind fegte über das Gelände. Das erschwerte das Schießen, aber sie trafen weiterhin gerade ins Ziel.
Die Sonne stand mittlerweile über den Baumwipfeln, als Rorik schließlich ein Fehler unterlief. Die Zielscheiben standen am unteren Feldrand. Rorik faßte das Ziel mit zusammengekniffenen Lidern ins Auge. Alaine und die Menge hielten den Atem an, als sein Pfeil durch die Luft schwirrte und das Schwarze knapp verfehlte. Alaine nahm es sich heraus, ihm ein Lächeln voller Spott und Siegesgewißheit zuzuwerfen. Er erwiderte dieses Lächeln. Zu ihrem Bedauern wirkte er nicht im geringsten bekümmert oder gar verärgert. Sie setzte einen Pfeil auf und spannte die Sehne, bis sie straff an ihrem Ohr lag.
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