Die Herzen aller Mädchen
Ballier sein. Schneider verlange das Lösegeld für seine Tochter. Es bestehe akute Gefahr für die Geisel. Nein, die Tochter sei noch in der Schule, bedroht werde ausschließlich die Ehefrau. Marc Schneider besitze eine Schusswaffe, Messer, Schlagwerkzeuge. Er wolle mit Dr. Ritter reden, er bestehe darauf, das originale Ovid-Manuskript zu besitzen. Er sei verwirrt und angriffslustig und nicht in der Lage, eine klare Verhandlung zu führen. Man brauche Psychologen. Man brauche Jaecklein. Und wo bitte sei die Kollegin, die mit Vera Schneider gesprochen habe? Die solle versuchen, nochmals Kontakt zu der Frau aufzunehmen. Aber vorsichtig, bitte. Nur erreichen, sondieren, beruhigen, an der Strippe halten. Ganz vorsichtig.
Bettina bekam von der Rückbank aus ihr eigenes Handy überreicht, intakt und ohne Kabel diesmal. Vera Schneiders Nummer hatten die Kollegen längst ermittelt und eingegeben. Bettina versuchte vorsichtig, sie anzurufen. Ganz vorsichtig. Doch die Leitung blieb tot.
Die Mascha-Kaleko-Straße war so weiträumig abgesperrt, dass man gar nicht erst hineinkam, jedenfalls nicht mit dem Auto. Das Polizeiaufgebot war groß und geordnet, Schaulustige eher in der Minderzahl. Es hatte etwas Unwirkliches, fand Bettina, als sie aus dem BMW stieg: Der Sonnenschein wärmte hier fast sommerlich, und die vielen entspannten Beamten benahmen sich wie bei einer Übung. Nur wenige Passanten waren unterwegs und kaum jemand blieb stehen. Niemand schien ernsthaft zu glauben, dass in den ruhigen Häusern jenseits der Absperrung etwas Ungewöhnliches stattfand. Wo denn auch bitte in dieser vormittäglichen Leere? Die Eltern des Viertels waren bei der Arbeit, die Kinder in der Schule, und alte Leute wohnten hier nicht.
Im Innern des Zirkels dann, in der Einsatzzentrale, einem schwarzen, von allen Seiten beklebten Bus, ging es eher konzentriert als locker zu, von der unpassenden Frühlingsstimmung war hier drin nichts zu spüren, aber so richtig im Stress war auch der Einsatzleiter nicht. Den Stress machte Jaecklein. Er trug seine Sonnenbrille, er sprach abgehackt, er wirkte plötzlich kantiger und unerklärlich aggressiv. Oder vielleicht, dachte Bettina, war er schon die ganze Zeit so gewesen. Nur dass seine Trauer auf diese Leute hier nicht ansteckend wirkte, die hatten nicht ihre Vorgesetzte verloren, die hatten von den Ereignissen nur gehört, die arbeiteten für ein anderes Bundesland.
»Der Schneider sitzt drin im Haus mit Frau und Tochter«, sagte der Einsatzleiter, ein rundlicher Kollege namens Ebert, den Bettina nur vom Sehen kannte, obwohl er auch aus Ludwigshafen war – anderes Kommissariat. Ebert blickte offen in Jaeckleins Spiegelbrille, was den Kollegen vom BKA ziemlich albern aussehen ließ. »Leider ist das Mädchen heute Morgen nicht in die Schule gegangen, das macht uns die meisten Sorgen. Diese amoklaufenden Väter neigen dazu, ihre Kinder anzugreifen.« Er lehnte sich an einen kleinen eingebauten Schreibtisch. »Dabei wissen wir nicht mal genau, wie gefährlich der Schneider ist. Er will nicht mit uns reden. Er will nur diesen Millionär, diesen Ritter sprechen. Aber der hat abgelehnt. Dr. Ritter ist momentan in München, und er hat erklärt, dass er mit Trittbrettfahrern nicht verhandelt.«
»Kann es denn sein, dass Schneider wirklich weiß, wo die Ovid-Handschrift ist?«, fragte Jaecklein.
Ebert blickte ihn groß an. »Er behauptet, er hätte sie hier im Haus. Und zumindest er glaubt da auch dran. So gut blufft der nicht.«
»Aber die Tatverdächtige im Mordfall Syra ist mit der Handschrift geflohen«, sagte Jaecklein steif. »Alles andere wäre unlogisch.«
Ebert blies seine Wangen auf und stieß Luft aus. »Mannmann«, sagte er.
»Bewiesen ist es natürlich nicht«, sprach Jaecklein womöglich noch förmlicher. »Wir waren nicht dabei.« Er richtete seine Brille kurz auf Bettina.
»Haben Sie von Schneider keinen Beweis gefordert? Eine Kopie? Ein Foto?«, fragte die.
»So weit sind wir noch nicht. Das Problem ist dieses viele Geld. Ein Irrsinn, wenn Sie mich fragen, eine Viertelmillion als Belohnung auszusetzen! Der Schneider ist davon völlig geblendet. Der meint, er kann das Buch verkaufen wie auf dem Flohmarkt. Wies aussieht, wollte er noch einen größeren, schickeren Deal mit irgendeinem Mister X machen, aber das hat seine Frau ihm versaut.« Wieder füllte Ebert seine Wangen mit Luft und pustete. Das sah mehr ernst als komisch aus, weil der rundliche Beamte seine Stirn so sorgenvoll dazu
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