Die Herzensbrecherin: Roman (German Edition)
Fach nach dem anderen riss er auf und schloss es wieder. »Wo zum Teufel hat sie die Ohrringe hingelegt?«
»Kann ich dir helfen, Vater?«, fragte Susannah unterwürfig, sprang aus dem Sessel und eilte zu ihm.
Joel hatte dem Kindermädchen verboten, ihr Haar zu
flechten. Deshalb hing es glatt und lose herab. Während sie vor ihm stand, erkannte er schweren Herzens, wie besorgt sie wirkte. Weil er so stark und mächtig war, deprimierte ihn ihre Hilflosigkeit und ihre völlige Abhängigkeit von ihm umso schmerzlicher. So ernsthaft war sie, so still, so übertrieben höflich mit ihrem Wortschatz einer alten Frau, so demütig. Noch nie hatte ein menschliches Wesen in ihm das Bedürfnis geweckt, es zu schützen. Nicht einmal seine leibliche Tochter. Um Baby Paiges Wohl kümmerte sich ein ganzes Heer von Dienstboten. Und dieses seltsam »alte« kleine Mädchen hatte nur ihn.
»Irgendwo in diesem Raum hat deine Mutter Ohrringe liegen lassen.«
»Ohrringe? Vielleicht die blauen?«
»Ja, die Saphire. Hast du sie gesehen?«
»Gestern sah ich Mutter Ohrringe in die Schüssel auf dem Kaminsims legen.«
Joel ging zu der Schüssel und nahm die Saphire heraus. Dann wandte er sich zu Susannah. Sie zog ihre Mundwinkel nur ganz leicht nach oben, um sein Lächeln zu erwidern.
Ein zitterndes, unsicheres Lächeln – aber eindeutig ein Lächeln.
»Was für ein liebes Mädchen du bist«, sagte er leise. »Ein sehr liebes Mädchen.« Und dann nahm er sie in die Arme.
Was beide noch nicht ahnten – in diesem Moment unternahm die sechsjährige Susannah den ersten Schritt, um sich zu der tüchtigen Gefährtin zu entwickeln, die Joel Faulconer so dringend brauchte.
2
Im nächsten Jahr fühlte sie sich glücklicher denn je. Joel adoptierte sie, und so war sie seine richtige Tochter. Nicht mehr Susannah Lydiard, sondern Susannah Faulconer. Zum ersten Mal in ihrem Leben ging sie zur Schule. Der Lehrer lobte sie und nannte sie seine klügste Schülerin. Jetzt machte sie nicht mehr ins Bett, und sie lächelte viel öfter und weinte nicht mehr so viel. Alle außer ihrer Mutter schienen sie zu mögen.
Obwohl Susannah sich eifrig bemühte, das Wohlwollen ihrer Mutter zu erobern – es gelang ihr nicht. Sie war immer sauber und gepflegt, hielt ihre Sachen in Ordnung, und sie tat alles, was ihr aufgetragen wurde. Trotzdem schimpfte Kay unentwegt mit ihr.
»Schleich dich nicht von hinten an mich heran!«, schrie sie fast jeden Tag. »Schon hundert Mal habe ich’s dir gesagt! Das ist mir unheimlich!«
Und so gewöhnte sich Susannah in der Nähe ihrer Mutter ein leises Räuspern an, um ihre Anwesenheit zu bekunden.
Ihre jüngere Tochter mochte Kay viel lieber. Nicht, dass die ältere ihr das verübeln konnte. Paige war so süß und zauberhaft, dass sich Susannah bereitwillig von ihr versklaven ließ. Sie brachte ihr Spielsachen, vertrieb ihr die Langeweile und beruhigte das kleine Mädchen, wenn es einen Wutanfall bekam. Wann immer sie Tränen über das runde, rosige Gesichtchen rollen sah, fand sie diesen Anblick unerträglich.
»Du verwöhnst sie«, klagte Kay eines Nachmittags, als sie von der Klatschkolumne einer Zeitung aufschaute und ihre Zigarette in einem Aschenbecher ausdrückte. »Gib ihr nicht alles, was sie verlangt!«
Widerstrebend entwand Susannah ihre neue Barbie-Puppe dem zerstörerischen Griff der kleinen Hände. Paiges blaue Augen verdunkelten sich, und sie begann protestierend zu schluchzen. Immer lauter heulte sie und ignorierte alle Ablenkungsversuche ihrer Halbschwester.
Schließlich wurde die Zeitung ungeduldig zusammengefaltet. »Heiliger Himmel!«, kreischte Kay. »Lass sie mit deiner Barbie spielen! Wenn sie die Puppe zerbricht, kaufe ich dir eine andere.«
Nur der Vater war immun gegen Paiges Charme. Nach mehreren ähnlichen Zwischenfällen erklärte er Susannah in strengem Ton: »Paige muss lernen, dass sie nicht alles haben kann, was sie will. Allmählich solltest du sie erziehen. Dazu ist deine Mutter weiß Gott nicht fähig.«
Susannah versprach, ihr Bestes zu tun. Am nächsten Tag ging sie einfach aus dem Zimmer, als ihr Schwesterchen vor Zorn tobte, obwohl ihr das fast das Herz brach.
Am Ende des ersten Schuljahrs begannen ihre seelischen Wunden zu vernarben. Ironischerweise wirkte Kays negative Kritik genauso heilsam wie Joels Zuneigung. Ihrer Mutter verdankte sie immerhin die Erkenntnis, dass sie nicht in einen Schrank gesperrt wurde, wenn sie ihre Manieren vergaß. Während dieses Sommers
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