Die Herzogin, ihre Zofe, der Stallbursche und ihr Liebhaber
verlassenen Schreibtischs versetzte ihr einen schuldbewussten Stich. Indem sie ihre Studien aufgab, hatte sie genau das getan, was der Herzog wünschte. Und hier war sie nun und versuchte, schwanger zu werden!
Sie erinnerte sich daran, wie die Tür hinter Sylvie und dem Jungen leise ins Schloss gefallen war. Nein, er war nicht bloß irgendein Junge, korrigierte sie sich, sondern Henri, den sie in ihren Körper aufgenommen hatte. Wenn sie erfolgreich gewesen waren, war er der Vater des Kindes, das sie unter dem Herzen trug. Ihr Kind wäre nicht das Kind eines namenlosen Burschen. Camille versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, ein Kind zu haben. Es wachsen und lernen zu sehen. Würde es ein Junge oder ein Mädchen werden? Ein Junge war wohl das Einzige, was sie vor dem Tod bewahrte. Sie könnte ihm nie von seiner wahren Herkunft erzählen: Das wäre zu gefährlich. Es wäre vermutlich bereits zu gefährlich, Henri zu gestatten, das Kind zu sehen. Vielleicht würde es ihn auch gar nicht interessieren. Man hatte ihr erzählt, das niedere Volk schere sich nicht sonderlich um seine Kinder, da es zu oft geschah, dass sie sie an den Tod verloren. Sie hatte keine Möglichkeit zu ergründen, ob das stimmte. Kein Bauer würde seiner Herzogin eine ehrliche Antwort geben. Vielleicht wusste Sylvie mehr. Sie war sehr einfallsreich, wenn es darum ging, Dinge herauszufinden. Oder die Hebamme konnte ihr etwas darüber erzählen.
Nach ihrem ersten Ehejahr hatte Camille eine Hebamme aus der Stadt kommen lassen, um sich einer sorgfältigen Untersuchung zu unterziehen, da sie dem Palastarzt nicht traute. Soweit es die Hebamme beurteilen konnte, war körperlich alles mit ihr in Ordnung. Sie hatte Camille versichert, sie würde schon bald guter Hoffnung sein. Vor zwei Jahren hatte sie in ihrer Verzweiflung eine andere Hebamme kommen lassen, die Sylvie für sie ausfindig machte. Diese neue Hebamme war Annette. Das erste Mal schmuggelte Sylvie sie als Pagen verkleidet in den Palast. Annette untersuchte Camille sorgfältig, sowohl äußerlich als auch innerlich. Madame Annette versicherte Camille, sie sei kerngesund, und spottete über die Vorstellung, das Reiten im Herrensitz könnte eine Schwangerschaft verhindern.
“Man sollte eher der Wichse Eures Gatten die Schuld geben. Er geht allzu freigiebig damit um.” Ihre Verachtung für den Herzog war sehr deutlich. Camille war plötzlich dankbar, dass er seine eigenen Lustbarkeiten ausrichtete und nie das Bordell in der Stadt aufsuchte. Wären ihm Annettes Worte zu Ohren gekommen, hätte er sie ohne jedes Zögern hinrichten lassen. Camille hatte alles geglaubt, was Annette ihr erklärt hatte. Aber damals war sie noch nicht verzweifelt genug gewesen, sich nach einem anderen möglichen Vater für ihr Kind umzusehen.
Jetzt wünschte sie, schon damals diesen Mut aufgebracht zu haben. Sie hatte viel zu viel Zeit damit verschwendet, weiter zu hoffen. Welche Ironie des Schicksals, dass ihre eigene Mutter ihr keine zehn Monate nach der Hochzeit das Leben geschenkt hatte. Doch danach hatte sie sich kaum noch um Camille gekümmert und sie vollständig der Amme überlassen. Nur zu offiziellen Anlässen hatte sie sich die Tochter bringen lassen, wie es sich gehörte, in Samt gewickelt und mit einem Spitzenhäubchen auf dem Kopf.
Camille wusste nicht, ob sie in der Lage sein würde, ihr Kind zu lieben. Wenn es ihr nicht gelang … Wie grausam wäre es, wenn das Kind die Zusammenhänge begriff. Wenn es erfuhr, dass es nur lebte, um das Leben seiner Mutter zu retten. Wenn sie seine Geburt überlebte, hoffte sie allerdings sehr, dass sie Gefühle für ihr Kind entwickeln könnte. Zumindest würde sie es versuchen und ihr Kind nicht ausschließlich Kinderfrauen und Lehrern überlassen, während sie sich ihren eigenen Vergnügungen hingab.
Vielleicht spielte das alles aber ohnehin keine Rolle. Sie fühlte sich nicht schwanger. Wie lange es wohl dauern würde, bis sie es wusste? Sie war sich sicher, dass sie es irgendwie spüren würde. Tief in ihrem Körper würde das Wissen erwachen, noch bevor ihr Unwohlsein ausblieb oder sich andere körperliche Anzeichen zeigten. Sie versuchte sich vorzustellen, wie ihr Kind wohl aussehen würde. Sie konnte sich nur eine kleinere, rundere Version von Henri ausmalen. Dichtes braunes Haar, das ihm in die Stirn fiel, eine reizende Stupsnase. Große blaue Augen, die von Wimpern, so dicht und lang wie Sommergras, beschattet wurden. Eine verführerisch volle Unterlippe.
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