Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
hatte keine Ahnung, woher es kam. Es rann einfach an den Wänden herab und verbreiterte die Rinne. Mittlerweile musste sie die Beine anziehen, um keine nassen Füße zu bekommen.
Der Abfluss, der dafür sorgte, dass das Verließ nicht völlig absoff, befand sich am Ende des Rinnsals in einer Senke. Er wurde durch eine schmale, hohe Eisentür gesichert, deren oberstes Drittel aus einem Eisengitter bestand. Bis das Wasser durch dieses Gitter abfloss, würde das Verlies allerdings drei Fuß tief unter Wasser stehen – eine perfide Vorrichtung, um die Gefangenen, die in dem Kerker schmachteten, zu quälen. O Himmel, dachte Sophie. Was, wenn die Wehen kamen? Würde sie überhaupt noch stehen können? Würde ihr Kind bei der Geburt ertrinken? War das Ediths Plan?
Die Tür konnte durch eine Kette hinaufgezogen werden, aber sie besaß weder Schloss noch Klinke. Sophie stellte die Kerze ab und rüttelte an dem Gitter. Wie sie vermutet hatte, ließ es sich nicht bewegen. Sie zog sich wieder auf ihre Insel zurück und biss vor Nervosität auf ihr Daumengelenk. Das Wasser stieg immer rascher. Bald musste sie eine der Kerzen aufnehmen und sich erheben. Mit den Füßen stand sie in einer Pfütze.
Der Schmerz kehrte zurück. Diese Mal breitete er sich in ihrem ganzen Unterleib aus. Es sind die Wehen, dachte sie. Oder schlimmer noch: Vielleicht hatte die Hexe den Turm doch nicht verlassen, sondern bohrte Nadeln in ihr Wachsbild. Sie begann zu schreien und hörte wieder auf, als der Schmerz verging.
In diesem Moment gab es ein knirschendes Geräusch. Die Gittertür wurde hochgezogen. Schwerfällig kreischten Ketten über Zahnräder. Einige faulende Zweige, die sich vor dem Gitter gesammelt hatten, wurden durch den Spalt, der entstand, fortgeschwemmt. Fassungslos vor Grauen, sah Sophie, wie Gesches Leiche angehoben wurde. Sie bewegte sich ruckartig, wie von einer Armee Ameisen getragen, auf das Loch zu. Ihr riesenhafter Leib stieß immer wieder gegen den Boden. Schließlich rutschte sie in den schwarzen Schlund hinab. Erst die Füße, dann der Körper, zuletzt das zerschlagene Gesicht. Das Wasser würde sie zu dem Weiher tragen, von dem Edith gesprochen hatte.
Und ich selbst werde ebenfalls dort landen .
Jetzt begriff Sophie, was die Hexe plante. Die offene Tür war eine Einladung. Verschwinde oder warte, bis sich die Tür wieder senkt, und ersaufe bei der Geburt. Natürlich wünschte Edith sich ihr Opfer möglichst rasch vom Halse, dadurch minderte sich die Gefahr der Entdeckung. Aber wenn sie die Tür öffnete, hieß das nicht, dass der Tunnel keinen Ausweg bot? Gab es überhaupt eine Chance, sich auf diesem Weg zu retten? Ja, dachte Sophie. Dann nämlich, wenn ich bis zum Weiher komme. Sie konnte schwimmen – das war etwas, womit die Hexe nicht rechnete. Mädchen aus gutem Haus lernten so etwas nicht. Es sei denn, sie hatten einen Vater, der sie wie einen Jungen großzog. Sophie hatte es schon gekonnt, als sie noch keine drei Jahre alt gewesen war.
Das Abflussloch war eng, sie hatte Mühe, sich mit ihrem dicken Bauch hindurchzuzwängen. Ihr Kleidersaum blieb an einem Stein hängen und riss. Zum Glück erweiterte sich ihr Bewegungsspielraum hinter dem Loch. Sie konnte beinahe aufrecht stehen. Triumph durchzuckte sie. Was, wenn ihr die Flucht tatsächlich gelang? Das Wasser strömte über ihre Waden.
Der Tunnel führte abwärts, was ihr Herzklopfen bereitete, denn sie wollte ja hinaus und nicht noch tiefer in die Erde. Aber was half es. Schon nach einem Dutzend Schritten verengte sich der Gang, und die Decke senkte sich herab. Sie musste in die Knie und sich hockend fortbewegen. Als der Schmerz sie erneut überfiel, musste sie ihn, eingeklemmt und ohne sich rühren zu können, über sich ergehen lassen. Mit zusammengebissenen Zähnen starrte sie auf den Fels. Spuren zeigten, dass man hier eine schmale Spalte mühevoll verbreitert hatte. War der Gang einmal als Fluchtweg aus der Burg angelegt worden? Wusste Marsilius von diesem geheimen Tunnel?
Sie vergaß ihre Überlegungen, als sie etwas Weiches berührte. Ängstlich hob Sophie die Kerze. Gesche. Ihr Leichnam hatte sich in den Vorsprüngen verfangen. Als der Schmerz nachließ, drückte Sophie sie vorwärts. Es war schrecklich. Obwohl Gesche tot war, hatte sie das Gefühl, ihr mit jedem Stoß weh zu tun. Dann gab es einen Ruck, und der Körper wurde vom Wasser fortgespült. Der Gang hatte sich wieder erweitert.
Schritt für Schritt tastete Sophie sich über den
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