Die Hexe vom Niederrhein: Historischer Roman (German Edition)
Doch seine Männer behaupteten sich.«
Seine Stimme war nun wieder klar. Kein Lallen war mehr in den Ausführungen
des Betrunkenen zu erkennen. Die Zähne aneinandermahlend, fixierte er Lorenz. »Kannst
du dir vorstellen, was das für ein Gefühl ist, wenn du einen Hügel hinaufschreitest,
und wenn du ihn erklommen hast, erkennst du, so weit das Auge reicht, Tausende von
Soldaten, Pferden und Kanonen? Kannst du dir vorstellen, welch alles zerreißenden
Lärm dieser Wall aus Feinden macht? Kannst du dir vorstellen, wie es ist, vor einer
Wand aus Soldaten zu stehen, die nur ein Ziel hat: dich zu töten?«
Lorenz wusste nicht, ob der Hauptmann eine Antwort auf diese Frage
haben wollte. Seine Worte kamen ohne Stimme über seine Lippen.
»Nein, Herr.«
Der Hauptmann nickte. »Gegen Abend verzog sich die Helligkeit des Tages
und der Himmel schien sich genau wie heute zu verfinstern. Die Wolken waren ruhelos
und ließen keinen Schimmer des Mondes durch, als die rechte Flanke uns im Rücken
traf.«
Nun fiel sein Blick zu Boden, seine Augen waren starr, seine Lider
weit aufgerissen. »Die Artillerie spuckte ihre Geschosse gegen unsere Reihen, sie
schien Hunderte von Donnerschlägen gleichzeitig zu schicken. Und dann bewegte sie
sich, diese Wand aus Feinden. Unbarmherzig erklangen die Trommeln und Fideln, diese
Symphonie des Krieges, und mit jedem Schritt wuchs die Angst und schwand die Hoffnung.
Als die beiden Heere aufeinandertrafen, brach Chaos aus. Überall waren Blut und
tote Körper zu sehen. Man konnte Freund und Feind in diesem Tollhaus der Gewalt
nicht mehr unterscheiden. Säbel und Piken blitzten in der Nacht auf und du weißt,
dass jeder Atemzug, jedes Gesicht, jeder Laut das Letzte sein könnte, was zu vernehmen
und zu sehen dir vergönnt sein wird.«
Nur mit Mühe konnte sich der Hauptmann aufrichten,
Lorenz fasste seinen Arm und half ihm, sich zu erheben. »Ich habe meinen Dienst
nicht beendet. Bin hierher zurückgegangen, wollte ein ruhiges Leben haben. Ein paar
Trunkenbolde zurechtweisen, Diebe von der Stadt fernhalten, solche Dinge halt. Weit
weg vom Krieg und den Gedanken daran. Und jetzt kommt er hierher, scheint mich zu
verfolgen, mich einzuholen und mich letztendlich doch noch zu kriegen.«
Der Hauptmann lächelte gequält, er musste sich auf Lorenz’ Schulter
abstützen. »Sei nicht dumm, Junge, geh nach Hause, schnapp dir ein schönes Mädchen
und verschwinde für ein paar Monate aus der Stadt. Wenn du zurückkommst, interessiert
es keinen mehr, wie heldenhaft du warst, aber an die Toten wird sich jeder erinnern.«
Als der Hauptmann schon im Begriff war, davonzutorkeln, richtete nun
Lorenz das Wort an ihn. »Ihr meint, ich sollte Fahnenflucht begehen?«
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er ihm die Worte etwas zu laut hinterhergerufen
hatte. Aufmerksam sah er sich um, doch keine Kerze wurde entzündet.
»Ich meine, dass du dein Leben leben solltest.«
»Und was ist, wenn ich beides schaffe, meine Pflicht zu erledigen und
mein Leben zu leben?«
Gemächlich drehte sich der Hauptmann zu ihm um, sein Gang war gebeugt,
und doch schoss er schnell auf Lorenz zu. »Tausende Soldaten sind auf dem Weg hierher,
Junge«, fauchte er. »In wenigen Tagen werden sie die Stadtgrenze erreicht haben.
Sollten die Kaiserlichen Truppen scheitern, werden sie alles nehmen, was sie kriegen
können. ALLES! Sie werden Kempen und alle umliegenden Dörfer plündern, die Männer
töten und die Frauen vergewaltigen.«
Lorenz sah in das Gesicht des Mannes. Zum ersten Mal konnte er ihm
tief in die Augen sehen. Sein Blick schien wirr, schien vor Zorn zu brennen. Des
Hauptmanns abstoßender Atem stieg Lorenz in die Nase, nur mit Mühe konnte er widerstehen,
sich abzuwenden.
»Das passiert in jedem Krieg, Junge.« Seine Worte waren nun versöhnlicher.
»Der Gewinner bekommt die Kriegsbeute.«
Die Hand des Hauptmanns schnellte auf seinen Bauch.
Kurz blickte er nach unten, dann übergab er sich keuchend vor Lorenz’ Füßen. Klatschend
landete der Met der vergangenen Stunden auf dem aufgewühlten Kopfsteinpflaster.
Nach nur wenigen Augenblicken hatte er sich gefangen und schritt, ohne ein weiteres
Wort zu sagen, vom Marktplatz.
»Ist das nicht ein weiterer Grund, sie aufzuhalten? Damit genau das
dieser Stadt nicht widerfährt?«, rief Lorenz ihm hinterher.
Bereits in der Seitengasse drehte der Hauptmann sich ein letztes Mal
zu Lorenz um.
»Tu, was du nicht lassen kannst, Junge. Aber ich sage dir, der Krieg
gebärt keine
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