Die Hexe vom Niederrhein: Historischer Roman (German Edition)
flüchten
sollten.«
»Sie würden ihnen doch nichts antun?«, entfuhr es Lorenz sofort.
»Weißt du das?«
Seine Antwort war ruhig und überlegt. Lorenz konnte erkennen, dass
Maximilian sich viele Gedanken gemacht hatte. Vielleicht sogar mehr als er selbst.
»Nein, Lorenz, wir müssen in die Schlacht ziehen.
Wir haben uns so entschieden und jetzt müssen wir gehen.«
Ein weiteres Mal erkannte Lorenz in Maximilian den Vater wieder.
»Wir haben also keine Wahl mehr«, sagte er flüsternd.
»Eine Wahl hatten wir vor ein paar Tagen, jetzt haben wir nur noch
eine Pflicht.«
Im Gegensatz zum Tag, der langsam vorübergegangen war, brach die Nacht
schnell und ohne Ankündigung über die Stadt herein. Es schien, als hätte es keine
Dämmerung gegeben, so plötzlich wurde es stockdunkel. Lorenz’ und Maximilians Sorge
um ihre Familie wuchs, doch um sechs Uhr abends hörten sie auf, in die dunkle Nacht
hinauszuspähen und gingen in ihr Zimmer, um einige Habseligkeiten einzupacken.
»Max, meinst du, ob wir sie jemals …«
»Nein!«, unterbrach ihn sein Bruder mit lauter Stimme. »Sprich diese
Worte nicht aus!«
In diesem Moment schepperte die Eingangstür zur Stube und sie vernahmen
ein allzu bekanntes Tippeln von kleinen, wuseligen Schritten. Sofort stürzten die
Brüder der Familie entgegen, nahmen ihre Geschwister auf den Arm und herzten die
Kleinsten.
»Siegfried, Amelie, Marie, geht in euer Zimmer und ruht euch aus. Ihr
hattet einen langen Tag«, befahl die Mutter den Jüngsten.
Sie spurten umgehend.
»Mutter, wir …«
»Kein Wort mehr über den Krieg.« Marta lief auf die beiden zu, drückte
ihre Söhne und küsste sie mehrmals auf die Wangen.
»Wir haben lange darüber geredet, haben den Kleinen gesagt, dass ihre
Brüder eine Lehre in Crefeld beginnen und bald zurück sein werden. Und jetzt bitte
ich euch«, ein weiteres Mal füllten sich ihre Augen mit Tränen, »kommt zurück. Lasst
euch als Köche einteilen, als Hufschmiede, meinetwegen als Latrinenputzer, aber
bitte kommt zurück«, flehte sie.
Noch einmal drückte sie ihre Ältesten so fest an sich, dass ihnen beinahe
die Luft wegblieb. Ein wunderschönes Gefühl. Nur langsam ließ Marta von ihren Söhnen
ab und ließ sich erschöpft auf den Stuhl fallen, während sie ihre Tränen trocken
tupfte. Den Blick auf ihre gequält lächelnde Mutter heftend, sahen sie aus den Augenwinkeln,
dass ihr Vater ihnen etwas zuwarf. Gerade noch rechtzeitig konnten sie das große
Paket fangen. Dann schritt der Mann auf sie zu.
»Wir sind den ganzen Tag von Dorf zu Dorf gegangen, um euch diese Sachen
zu besorgen. War nicht einfach«, sagte der Hüne.
Lorenz untersuchte das Paket. Er und sein Bruder hielten neue Rucksäcke
in ihren Händen, vollgestopft mit Schinken, Käse und mehreren Laiben Brot, dazu
feine Wolldecken, die bestimmt keine Kälte an den Körper heranlassen würden. Mehrere
dicke Paar Socken und Unterhemden fanden sie in den Seitentaschen. Mit großen Augen
starrten die beiden ihren Eltern entgegen.
»Danke« war das einzige Wort, was ihnen jetzt noch über die Lippen
kommen wollte.
»Verabschiedet euch von euren Geschwistern und kein Wort vom Krieg«,
mahnte ihre Mutter.
Sofort gingen sie in das Zimmer und drückten die Kleinen heftig. Als
sie in die strahlenden Gesichter blickten, mussten sie beide mit den Tränen kämpfen.
»Wann kommt ihr zurück?«, fragten die Geschwister mit leuchtenden Augen.
»Schon bald«, sagten die Brüder.
»Wird es in Crefeld gefährlich sein?«
Gemeinsam wuschelten sie den Kleinen durch die Haare.
»Ach, wo denkt ihr hin«, logen sie.
Ihre Hälse fühlten sich wie zugeschnürt an. Unter Tränen stand Marta
am Türrahmen und beobachtete den Abschied. Dann drückte auch sie die beiden ein
letztes Mal an sich.
»Ich werde jeden Tag zum Allmächtigen beten, dass er dich mir zurückschickt«,
flüsterte sie jedem ihrer Söhne ins Ohr. Gebeugt verschwand sie in ihr Schlafzimmer
und verschloss die Tür.
»Kommt mit, Burschen«, sagte Vater ruhig.
Gemeinsam gingen sie in die dunkle Schmiede,
die nur von einer kleinen Kerze erleuchtet wurde, deren Flamme im Wind der Nacht
zappelte. Grob warf er ein paar Kisten zur Seite, das Scheppern des Holzes ließ
sie zusammenschrecken. Schließlich wuchtete er ein längliches Behältnis auf den
Tisch und öffnete vorsichtig den Deckel. Die Brüder traten etwas näher heran, um
den Inhalt in Augenschein zu nehmen. In mehrere Laken eingewickelt, kamen zwei Musketen
zum
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