Die Hexe von Freiburg (German Edition)
vor sich. Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke.
Sie ging zurück zu Michael, der wieder in das Studium seiner Liste vertieft war.
«Hat man sie gefoltert?»
«Unsinn. Sie stand ja nicht wegen Hexerei oder Kindstötung unter Anklage, sondern nur wegen Amtsmissbrauch. Wo kämen wir auch hin, wenn jede Hebamme, jeder Bader ohne Aufsicht vor sich hin doktern würde.»
«Glaubst du, dass es in unserer Stadt eines Tages wieder zu Hexenprozessen kommen könnte?»
Michael sah sie erstaunt an. «Was machst du dir bloß für seltsame Gedanken? Lass mich jetzt bitte die Liste durchgehen, und dann trinken wir noch gemütlich ein Glas Wein zusammen, ja?»
Doch Catharina war nicht nach einem behaglichen Abend mit ihrem Mann zumute, und sie zog sich mit der Ausrede, sie leide an heftigen Monatsbeschwerden, zurück.
22
Freiburg, im September anno 1579.
Liebste Lene! Du glaubst nicht, wie froh ich über die Nachricht bin, dass du die schwere Geburt gut überstanden hast und dass deine Jüngste und du wohlauf seid. Nun hast du vier Kinder – wie glücklich musst du sein.»
Sie legte den Stift zur Seite. Der längst überwunden geglaubte Schmerz stieg wieder in ihr auf. Sie sah Lene vor sich, wie sie Marthe-Marie in den Armen hielt, ihre kleine Marthe-Marie, die sie seit der Geburt vor sechs Jahren nie mehr gesehen hatte. Inzwischen lebten sie im fernen Innsbruck, in schier unerreichbarer Entfernung, und wahrscheinlich war das am besten so. Schließlich hatte sie selbst es so gewollt, und sie musste sich nun ein für alle Mal frei machen von Zweifeln und Wehmut. Bei Lene wusste sie ihre Tochter in den allerbesten Händen, sie wuchs unter Geschwistern auf und in einem Haus, in dem viel mehr Freude und Fröhlichkeit herrschte als hier.
«Du fragst mich in deinem letzten Brief, ob ich trotz aller Widrigkeiten wenigstens zufrieden bin mit meinem Leben. Ja und nein – trotz der katastrophalen Ernte in diesem Sommer und den steigenden Preisen floriert unsere Schlosserei wieder einmal, und wir haben keine Geldsorgen. Auf der anderen Seite –»
Wieder zögerte Catharina und kaute auf dem Federkiel herum. Draußen stimmten die Vögel ihren Abendgesang an.
Nein, sie konnte von sich nicht behaupten, zufrieden zu sein. Im Gegenteil: Sie hatte längst wieder das Gefühl, ein Doppelleben zu führen, wenn auch aus anderen Gründen als damals mit Benedikt. Vor Gästen führte sich Michael als treu sorgender und liebevoller Ehemann auf. Waren sie hingegen allein, nörgelte er unentwegt an ihr herum.
Sie seufzte. Ob sie wohl jemals sie selbst sein durfte? An der Seite dieses Mannes bestimmt nicht. Sie setzte den Stift wieder an.
«Michael hat sich verändert. Ich kann nicht sagen, wann das angefangen hat, es kam schleichend. Früher saßen wir abends oft noch zusammen und führten richtige Gespräche. Jetzt erzählt er überhaupt nichts mehr, treibt sich stattdessen jeden Abend irgendwo herum. Was aber noch viel schlimmer ist: Er versucht mich bei jeder Gelegenheit klein zu machen. Er würde sich schämen, mit solch einem ‹Bücherwurm› verheiratet zu sein. Andere Frauen verbrächten ihre freie Zeit damit, das Haus wohnlich auszustatten, Zierdeckchen zu sticken oder zu musizieren. Ich hingegen hätte nur Bücher und meine Briefe an dich im Kopf. Vor allem wenn er getrunken hat, wirft er mir Beleidigungen an den Kopf: Ich sei eingebildet, unfruchtbar, keine richtige Frau und Ähnliches.
Gestern hat er mir verboten, weiterhin mit Barbara und Elsbeth in der Küche zu essen, was eine meiner wenigen Vergnügungen in diesem Haus ist. Dabei geht es ihn meiner Meinung nach gar nichts an, wo ich esse, solange keine Gäste da sind – aber was soll ich machen? Genug gejammert, andere Frauen sind noch viel elender dran.
Liebe Lene, hast du schon von den schrecklichen Verurteilungen gehört? Kürzlich sind nach vielen, vielen Jahren wieder Frauen als Hexen bei lebendigem Leib verbrannt worden. Es fing an mit der Tochter des alten Zöllners vom Schwabentor. Sie war wohl früher schon einmal wegen Zauberei angezeigt worden, der Prozess wurde aber eingestellt. Jetzt haben ihre Nachbarn bezeugt, dass sie mit dem Teufel im Bunde stand und ihren Gatten zu Tode verflucht habe. Tatsächlich war dieser von einem Tag auf den anderen gestorben, obwohl er noch jung war. Dass so etwas aber gleich als Beweis gewertet wird, zeigt mir, dass die Leute hier langsam ihren gesunden Menschenverstand verlieren. Überall in den Gassen spürt man die Angst der
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