Die Hexe von Paris
Neffen«, verkündete die Korpulente mit dem selbstzufriedenen Ton einer Provinzbewohnerin, die einen bedeutenden Mann kennt. »Demnächst königlicher Stallmeister, sobald der Posten vakant ist«, fügte sie bedeutsam hinzu. »Ich sagte zu meiner Schwester, ›das ist nicht alles, es steckt mehr hinter der Geschichte, das darfst du mir glauben. Da meine Neffe bei Hof aufgestiegen ist, ist er einer dieser schamlosen Damen in die Fänge geraten. Sie hat ihn mit dem tödlichen Bann der Leidenschaft ins Verderben gelockt. Ich bin im Bilde.‹«
Die kleine, behende Frau unterbrach ihre Schwester, um die Geschichte zu beenden: »›O nein, nicht tot!‹ schrie ich. Ich sage Euch, mein Herzrasen hat mich fast auf der Stelle getötet. Aber er und meine Schwester fingen mich auf, als ich stürzte. ›Gewiß nicht tot?‹ Da zögerte er. Ah! Ich argwöhnte etwas. Er verbarg etwas. ›Nun, nicht ganz tot‹, sagte er, aber er wollte nicht verraten, wo er lag. Er wiederholte nur stetig: ›Das Geld für seine Seelenmessen – es ist hier.‹ ›Ha!‹ sagte ich. ›Ich weiß, daß Ihr lügt. Was habe ich von Messen? Wenn er dieses Geld geschickt hätte, würdet Ihr wissen, daß ich für meinen Sohn keine Messe lesen lasse, einerlei, welchem Glauben er in dieser lasterhaften Stadt verfallen ist. Er lebt, dieses Weib verbirgt ein tödliches Geheimnis. Dies ist Bestechungsgeld, das mich zum Schweigen bringen soll. Ich aber lasse mich nicht so leicht täuschen. Er ist mein Sohn!‹ Und an seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, daß ich recht hatte. Seine Miene war entsetzt, und er machte kehrt und floh, ohne ordentlich Lebewohl zu sagen.« Die kleine Frau schien ob dieser dramatischen Schilderung mit sich zufrieden.
»Selbstverständlich habe ich sogleich denselben Schluß gezogen«, warf die Große ein. »Wir verstehen uns darauf, Charaktere zu lesen. Wir haben die Wissenschaft der Physiognomie studiert.«
»Sie ist unfehlbar, des Abbés Pregnani Abhandlung über die Kunst des Gedankenlesens aus den Gesichtszügen«, setzte die kleinere Frau hinzu.
Aber ihre Schwester, kaum fähig, sich zu zügeln, unterbrach sie abermals: »Es war eine von diesen Hofintrigen. Ja, eine Intrige, ein höfisches Komplott. ›Meinst du, er trägt in diesem Augenblick eine eiserne Maske?‹ fragte ich meine Schwester –«
» – wahrscheinlicher ist, daß er entdeckt hat, wer die eiserne Maske war. Ich kenne meinen Sohn; er läßt die Dinge nie auf sich beruhen. Ich werde der Sache auf den Grund gehen, habe ich gesagt, und so haben wir das Bestechungsgeld verwendet, um die nächste Postkutsche nach Paris zu nehmen.«
»Und bitte, sagt, wie habt Ihr mein Haus gefunden?« Meine Stimme war kalt, aber ich fühlte heißen Zorn meinen Nacken hinaufsteigen.
»Ich erkannte das Wappen der Bouillons auf der Kutsche, die den Chevalier brachte –«
»Ich habe diese Dinge studiert – in den Kreisen, in denen ich verkehre, sind solche Kenntnisse unerläßlich –«
» – als ich das Wappen erkannt hatte, begaben wir uns nach Paris, in die Remise des Palais de Bouillon, und fragten geschickt einen Kutscher aus, wohin er den Chevalier de la Motte in jüngster Zeit gefahren hatte – dies war, um gerecht zu sein, der Einfall meiner Schwester.«
»Meine Damen, meine Damen, schweigt still!« rief ich. Meine Nerven drohten zu versagen.
»Ihr schweigt still, schamlose Dirne, und führt uns zu ihm, oder wir melden Euer ruchloses Gebaren der Polizei. Es gibt einen Ort für Frauen wie Euch, die junge Männer aus guter Familie ins Verderben ziehen.« Die Korpulente setzte eine selbstgerechte Miene auf. Ich kniff die Augen zusammen.
»Wenn Ihr das tut«, sagte ich gelassen, »wird der Mann, der oben liegt, für seine Teilnahme an der Straßenprügelei, die sich vor meiner Türschwelle ereignete und von der ich ihn errettet habe, im Kerker sterben.«
»Unsinn. Florent d'Urbec liegt oben – Euer Liebhaber, den Ihr ins Verderben gelockt habt.« In Blitzesschnelle wurde mir alles klar. Der Teufel sollte diesen Lamotte holen. Das kommt davon, wenn man einen Mann mit einem Auftrag betraut, der Liebesdramen fürs Theater verfaßt. Wer weiß, warum er das getan hatte – um Zeit zu sparen, um einer wichtigen Verpflichtung in Paris nachzukommen, hatte er sich beeilt, d'Urbecs Geld zu überbringen, bevor d'Urbec tatsächlich gestorben war. Lamotte, der sich selbst zu de la Motte befördert hatte, von seinen Phantasien mitgerissen, bestrebt, d'Urbecs Mutter eine edle
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