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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Utensilien erneut zurecht und tat einen tiefen Blick ins Wasser. »Oh, das ist sehr interessant«, erwiderte ich. »Ich sehe Madame de Montespan den Hof verlassen. Sie ist wütend, sie fährt in aller Eile in ihrer Kutsche nach Paris. Die Kutsche ist bis oben hin voll geladen mit Schachteln.« Ich betrachtete die wassergefüllten Furchen auf der Straße und die jungen Frühlingsknospen an den Bäumen. »Ja, es ist eindeutig, sie wurde fortgeschickt, und alles weist darauf hin, daß es in Bälde eintreten wird.«
    »Oh, das ist köstlich!« rief die Comtesse. »Sie wird stürzen, und alle ihre Macht wird mein sein.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Wem werdet Ihr als nächstes lesen?« fragte sie in gelassenem Ton.
    Ich spürte die Gefahr. Und um sie von ihrem Interesse für meine Kundschaft abzulenken, sagte ich:
    »In dieser Zeit der heiligen Bußfertigkeit habe ich allen weiteren Lesungen entsagt, um meine Zeit der Andacht zu widmen, bis unser Herr auferstanden ist.« Schließlich rückte die Karwoche näher, und so schien mir dies eine gute Ausrede. Keine Wahrsagerei bis nach Ostern – was konnte bewunderungswürdiger sein? Überdies gehörte es bei Hofe zum guten Ton, den Anschein von Frömmigkeit zu wahren. In jüngster Zeit wohnte ich beinahe so vielen Messen bei wie einst Marie-Angélique. Nun gut, schienen die Augen der Comtesse zu sagen. Ihr wollt es mir nicht verraten. Wir verstehen uns.
    »Natürlich gibt es gegenwärtig keine erleuchtendere Ergänzung der Andacht, als Père Bordalue bei seinen Predigten zuzuhören.« In der Fastenzeit, wenn die Theater geschlossen waren, nahmen Predigten die Stelle von Dramen ein. Bordalue, der glühende Prediger, war in dieser Zeit das Idol; nur die höchste Elite konnte hoffen, Einlaß in der königlichen Kapelle zu finden.
    »Ach, es ist mein innigster Wunsch, die beseelten Worte von Père Bordalue zu hören. Schon das Lesen seiner Predigt über die Bußfertigkeit trieb mir die Tränen in die Augen.« Nach einem weiteren Austausch frommer Höflichkeiten rief sie eine ihrer Kammerfrauen herbei. Wenn Bordalue das nächste Mal predigte, sollte ich einen Platz bekommen. Ich ging in Erwartung eines amüsanten Erlebnisses von dannen, nur die Erinnerung an das unaufrichtige kleine Lächeln der Comtesse beeinträchtigte meine Zufriedenheit.
    Am folgenden Sonntag beobachtete ich, an das Gitter unterhalb der Königstribüne gequetscht, jener hohen Empore, die direkt mit den Staatsgemächern verbunden war, mit Dutzenden anderer beflissener Damen von unzureichendem Rang und Vermögen, wie sich unter uns das Drama rempelnder Höflinge abspielte. Unsere Befriedigung war nahezu so groß, als hätten wir den Göttern und Göttinnen in einer Oper von Lulli zugesehen. Die einzelnen Darsteller auf dem schwarzweißen Marmorfußboden vor dem Altar versuchten, den anderen ihre Position auf tausend verschiedene Arten klarzumachen. Die großen Damen waren alle in Begleitung eines Lakaien, der während der Lesungen die Antworten für sie sprach. So konnten sie sich der interessanteren Beschäftigung widmen, die Robe von Madame de Montespan zu begutachten, die ihre Augen mit großer Inbrunst himmelwärts verdrehte. Nur Herzoginnen war es gestattet, die Kollekte durchzuführen, und sie machten sich die Gelegenheit zunutze, den Anwesenden ihre Kleider vorzuführen. Die meiste Zeit aber waren aller Augen auf den König gerichtet, der über den gewöhnlichen Sterblichen auf einem braunen Samtkissen kniete. Die fürnehmsten Höflinge bildeten vor seiner Empore gegenüber dem von Marmorsäulen gestützten Allerheiligsten einen Halbkreis, mit dem Rücken zum Altar, um den König besser sehen zu können.
    Ein bewunderndes Gemurmel erhob sich unter den Damen, als Bordalue sich zu predigen anschickte. Und sie seufzten »Oh, wie wahr, nur zu wahr«, als der Prediger flammend die Sünden der Habsucht und des Neides anprangerte. Er hatte die Arme vor Entrüstung hoch erhoben, seine Stimme vibrierte vor Empörung. »Der Hof ist der Mittelpunkt der Korruption auf Erden!« rief er. Frauen weinten, und feiste, behäbige Jünglinge nickten zustimmend. Das war besser als die tirade, welche die Tragöden auf der Bühne von sich gaben. Bordalue stürmte weiter: Die Reichen lebten ein Leben in Frivolität, rief er in die Ansammlung von wedelnden Fächern und zerknüllten Taschentüchern. O Korruption, daß die Reichen nichts dabei fanden, Tausende beim Kartenspiel zu verlieren, während die Armen

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