Die Hexengabe: Roman (German Edition)
Rosa einen Stich. Was war hier los?
Einer der Offiziere schlug mit einem Hammer auf den Tisch und sagte mit salbungsvoller Stimme: »Der erste Zeuge trete vor, nenne seinen Namen und erzähle laut und deutlich, was er gesehen habe.«
Der Profos trat vor und begann: »Lorenz Löhner. Nachdem der Sturm ruhiger geworden war, bin ich meinen Aufgaben nachgekommen und habe das Deck kontrolliert. Und als ich am Großmast vorbeiging, sah ich durch das Kajütenfenster des Missionars Johann Basilius Martin Scheidegger etwas aufblitzen.
In der Annahme, es könnte nach dem gewaltigen Sturm jemand in Not sein, habe ich dann durch das Fenster in die Kajüte gespäht und dabei gesehen, wie dieser Mann hier«, er deutete mit ausgestrecktem Finger auf den Missionar, »seine Geschlechtsteile entblößt und in dem Jungen da versenkt hat.«
Rosa wurde übel. Sie starrte den Missionar an. Sie erinnerte sich an nichts mehr. Hatte er das wirklich getan, ihre Bewusstlosigkeit ausgenutzt?
Er warf ihr flehende Blicke zu und schüttelte vehement den Kopf.
Sie war vollkommen angezogen gewesen. Nein, er hatte sie nicht in dieser Weise angerührt.
»Und was habt Ihr dann getan?«
»Um nicht der üblen Nachrede beschuldigt zu werden, habe ich den Schiffschirurgen Wolfhardt Leonberger dazugeholt, damit er auch sähe, was ich sah.«
»Auch dieser Zeuge trete vor.«
Rosa konnte nicht glauben, dass Wolfhardt gegen sie aussagen würde. Immerhin wagte er es nicht, sie anzusehen. Wahrscheinlich hatte ihn der Profos zu einer Aussage erpresst.
»Nenne auch dieser Zeuge seinen Namen und erzähle frei heraus, was er gesehen hat.«
»Ich sah die beiden hier in inniger Umarmung auf der Koje liegen.«
»Konntet Ihr Genaueres erkennen?«
»Nein, dazu war es zu dunkel.«
»Habt Ihr Geschlechtsteile gesehen?«
Wolfhardt schüttelte den Kopf.
Immerhin, dachte Rosa, immerhin hat er noch einen Funken Anstand. Mit ihrem brummenden Schädel kam ihr das alles so seltsam unwirklich vor wie ein Traum, in dem man einer Narrenposse von Hans Sachs beiwohnt. Gleich würden alle applaudieren, und der Spuk wäre vorbei.
Der Profos stieß Wolfhardt aufmunternd an. »Na los doch«, zischte er.
»Hohes Gericht, ich habe weder das Glied von dem einen noch das des anderen gesehen.«
Wie auch, dachte Rosa, wie auch? Nein, das hier war kein Traum, auch kein Albtraum, den Männern war es entsetzlich ernst.
»Aber ich, ich habe es sehr deutlich gesehen.« Der Profos war eifrig aufgesprungen und meldete sich zu Wort.
»Welches Glied?«
»Alle beide, auch das aufgereckte von dem Jungen!« Der Profos leckte sich über die Lippen.
Rosa riss ihre Augen auf. Was wollte der Mann gesehen haben? Blitze zuckten hinter ihren Augen, und ihr wurde schwindelig. Mit entsetzlicher Klarheit dämmerte ihr, dass man ihr an den Kragen wollte.
Es wunderte sie, dass ihr Finger nur kühl, aber nicht eiskalt geworden war. Glaubte der Profos etwa, was er da sagte? Aber wie hätte er etwas sehen können, das nicht existierte?
Der Missionar begann aus vollem Halse zu lachen. Rosa warf ihm warnende Blicke zu. War ihm denn nicht klar, dass der Profos darüber noch schärfer werden würde?
»Hört sofort auf zu lachen«, der Erste Steuermann schlug wieder auf den Tisch, »sonst erhaltet Ihr wegen der Missachtung des hohen Gerichts vorweg fünfzig Peitschenhiebe auf den nackten Arsch!«
»Und was hätten wir denn getan mit den Aufgereckten?«, fragte der Missionar, als er aufgehört hatte zu lachen.
»Sie dem anderen in den Arsch geschoben!« Der Profos schaffte es, angewidert und bestimmt zugleich zu klingen.
Ein noch lauteres, bösartiges Raunen als vorhin breitete sich aus.
»Auf Sodomie an Bord steht der Tod!«, verkündete der Erste Steuermann mit lauter Stimme.
Der Tod für etwas, dessen sie nicht schuldig waren? Rosa schüttelte den Kopf, um das Rauschen darin abzustellen, doch ihre Gedanken blieben wirr. Hatte sie das wirklich richtig verstanden?
»Kann der andere Zeuge das bestätigen?«, fragte einer der Offiziere.
Rosa versuchte, den Blick von Wolfhardt aufzufangen, aber er wollte sie noch immer nicht ansehen. Warum nicht? Was hatte sie ihm angetan? Nichts!
»Ich …«, begann Wolfhardt, »ich erinnere mich nicht.«
»Wart Ihr mal wieder betrunken?«, hakte der Erste Steuermann nach.
Wolfhardts ernstes Gesicht verzog sich zu einer bitteren Grimasse. »Dazu hatte ich keine Zeit, ich habe den Kapitän und andere Verletzte versorgt, die der Taifun übel mitgenommen
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