Die Hexengabe: Roman (German Edition)
hat.«
Langsam dämmerte Rosa, warum er sich so merkwürdig ihr gegenüber verhielt. Er war wütend darüber, weil sie ihn allein gelassen hatte, nicht zur Stelle gewesen war, aber deshalb musste er doch noch lange nicht gemeinsame Sache mit dem Profos machen. Oder hatte man ihn gezwungen?
»Über Bord mit den Sodomiten, über Bord mit ihnen!«, begannen die Matrosen, die sich um die Verhandlung geschart hatten, zu skandieren.
Warum, dachte Rosa, warum waren die nicht einfach froh, dass sie den Taifun überlebt hatten? Weil sie ausgehungert waren, gab sie sich die Antwort gleich selbst, und wütend, und deshalb waren die Männer unberechenbar.
Angst überschwemmte ihren Körper. Was konnten sie tun, um der Empörung der Massen Einhalt zu gebieten?
Was war schlimmer: Sodomie oder eine als Mann verkleidete Frau zu sein?
»Wenn Ihr gesteht, erspart Euch das die Folter!«, erklärte einer der Offiziere.
»Warum sollten wir etwas gestehen, was wir nicht getan haben?« Der Missionar klang zutiefst angewidert.
»Der Pfaffe ist das Allerschändlichste.« Völlig außer sich begann der Profos zu schreien: »Vielleicht ist er gar der Teufel selbst!«
Das Skandieren der Mannschaft wurde noch lauter: »Über Bord, über Bord!«
»Hier geht es nur darum, die Beschuldigten der Sodomie zu überführen.« Der Erste Steuermann versuchte, seinen Profos zu beruhigen.
»Und was passiert mit denen, die falsches Zeugnis ablegen wider andere?«, fragte Rosa, um Zeit zu gewinnen. Sie musste dem Wahnsinn hier unbedingt Einhalt gebieten, verhindern, dass die Empörung überkochte, und dazu gab es nur einen Weg. Sie musste ihre Verkleidung offenbaren.
»Auch darum geht es hier nicht. Also, wollt Ihr gestehen?«, fragte der Erste Steuermann.
Rosa nickte. Sie würde es tun, um den Missionar und sich zu retten. Es gab nur diesen Weg.
Der Missionar schüttelte den Kopf. »Niemand will hier gestehen!«
»Doch, ich gestehe.« Rosa sah die Männer der Reihe nach an, bis sie aufhörten »Über Bord mit den Sodomiten!« zu brüllen und Schweigen eintrat. Sie wartete, bis das Schweigen unerträglich wurde.
»Tu’s nicht, tu’s um Gottes willen nicht!«, schrie der Missionar plötzlich so laut, dass alle zusammenzuckten. »Tu’s nicht!«, wiederholte er.
Rosa schüttelte den Kopf. Es war zu spät. »Es hat keine Sodomie stattgefunden«, sagte Rosa, räusperte sich und fuhr dann mit fester Stimme fort, »denn ich bin eine Frau.«
Wütender Tumult brach los, man stürzte zu ihr, riss an ihrer Mütze, am Hemd, bis Wolfhardt dem Ganzen Einhalt gebot.
»Bleibt, wo ihr seid.«
Der Profos war tiefdunkelrot im Gesicht. »Der Schamlose lügt, wenn er’s Maul aufmacht, von Anfang an. Das will ich sehen, dass der eine Frau ist.«
Die anderen Offiziere lachten und flüsterten. »Wie er da aufgereckte Glieder gesehen haben will«, kicherten sie und stießen sich gegenseitig in die Rippen.
»Dann befehle ich dem Arzt, dass der den Jungen jetzt ausziehe und sich von seinem Geschlecht einwandfrei überzeuge.« Der Erste Steuermann schlug erneut mit dem Hammer auf den Tisch.
»Muss ich mich vor allen hier ausziehen?« Rosa konnte nicht glauben, dass man ihr das vorschlug. Man wollte sie demütigen.
»Nein! Das werde ich nicht tun.« Sie betrachtete die Männer und dachte daran, wie wütend sie gewesen waren, als die Huren auf den Kapverden nicht an Bord kommen durften. Sie alle hatten lange keine Frau mehr gesehen, geschweige denn berührt. Man würde sie mit Blicken vergewaltigen.
»Das musst du, damit kein Zweifel bleibt.«
Rosa schluckte. Das war widerwärtig. Das war infam. Vor all diesen Kerlen! Ihr Herz raste.
»Nein, das werde ich nicht tun. Ich werde mit dem Arzt in seine Kajüte gehen.«
»Das könnte dir so passen. Du hast dir das alles selbst eingebrockt, nun löffle die Suppe auch aus!« Der Profos war immer lauter geworden. »Ich glaube dir sowieso kein Wort, denn du bist nur ein elender Lügner.«
Die Offiziere nahmen ihr die Ketten ab. Rosa wand und wehrte sich. »Nicht hier, nicht vor all diesen Leuten.«
Aber die Offiziere hielten sie fest, und der Profos befahl Wolfhardt, sie auszuziehen. Er trat widerwillig zu ihr und zögerte.
»Das dauert mir zu lange!« Der Erste Steuermann nahm seinen Degen und schlitzte Rosas Hemd mit einem Ratsch auf. Rosa blieb wie angewurzelt stehen, wagte kaum zu atmen vor lauter Angst, der Degen könnte ihr den Bauch aufschlitzen.
»So geht das!«, sagte der Steuermann, als das Hemd in zwei
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