Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
Weihestätte, was die Himmelsscheibe? »Was habt ihr mit mir vor?«, fragte sie schließlich.
»Darauf gibt es nur eine Antwort.« Abdurezak richtete sich wieder auf und wandte sich zu dem zweitältesten Mitglied des Ältestenrates um. Der Mann war mittlerweile hinter ihm herangekommen. »Sie will wissen, was mit ihr geschehen wird. Und ich denke, sie hat auch ein Recht, es zu erfahren.«
Arri sah auf. Sie hatte vergessen, wo sie war. Während sie mit Abdurezak gesprochen hatte, war die Wirklichkeit Stück für Stück weggebrochen. Erst jetzt wurde sie sich wieder der Schmerzen an ihren wundgescheuerten Gelenken bewusst, und auch der Morgensonne, die ihr Gesicht nicht liebkoste, sondern mit ihren harten Strahlen attackierte, als wolle sie sie mit ihrer zunehmenden Hitze wegbrennen.
Ihr Blick fiel auf das Boot, in dem Dragosz lag. Ihr Dragosz, ihr Geliebter, der Mann, dem sie überall hin gefolgt wäre, bis auf den höchsten Berg, und wenn es hätte sein müssen, auch auf den Meeresgrund. Dragosz sah nun nicht mehr aus, als schliefe er. Im harten Licht der gnadenlosen Sonne schien es ihr eher so, als werde er jeden Augenblick blinzeln, tief durchatmen, sich keuchend aufrichten – um dann Abdurezak zu fragen, was der Unsinn denn eigentlich sollte, den er aus den Gedärmen eines Vogels herausgelesen haben wollte.
»Wenn sie unbedingt zu meinem Vater will, dann lasst sie doch«, hörte sie eine gehässige Stimme hinter sich sagen. »Schmeißt sie doch einfach ins Wasser – so, wie sie ist!«
Fast widerwillig löste Arri den Blick von Dragosz. Taru, richtig. Es befand sich nicht nur der alte Mann auf dem Steg, der sie mit seinen bitteren Worten gequält hatte, sondern auch der Junge, der sie mehr hasste als irgendetwas sonst auf der Welt.
Abdurezak murmelte ein paar Silben, die Taru mit einem halblauten Fluch beantwortete. Dragosz aber rührte sich nicht. Er blinzelte nicht, er atmete nicht tief durch, er rührte sich überhaupt nicht.
Er war tot.
Arri wandte endgültig den Blick von Dragosz ab. Es war, als wäre ihr Geliebter gerade zum zweiten Mal gestorben, als hätte Abdurezak ihr endgültig den Mann genommen. Und Arri begriff endgültig, dass auch sie selbst tot war, gestorben in dem Augenblick, in dem Dragosz seinen letzten Atemzug getan hatte.
Taru machte erneut eine hämische Bemerkung, aber diesmal verzichtete Abdurezak darauf, ihn zurechtzuweisen. Vielleicht gab er Dragosz’ Sohn ja insgeheim recht.
Aber nicht das war es, was Arris Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war ein hagerer alter Mann mit tief gefurchtem Gesicht und einem Gebiss, das löchriger als ein Sieb schien. Der Alte hatte sich an Abdurezak vorbeigedrängt und starrte jetzt aus müden, blutunterlaufenen Augen auf sie herab. Dabei nickte er so langsam, dass die Bewegung kaum wahrnehmbar war.
»Rechte hat nur der, der auch das Recht hat, seine Rechte einzuklagen«, sagte er mit einer Stimme, die so rau klang, als würden Uferkiesel miteinander verrieben.
Arri musste sich erst räuspern, bevor sie ein »Was?« herausbrachte.
»Du hast keine Rechte mehr, weil du nicht das Recht hast, sie einzuklagen«, fuhr der Hagere fort, und während Abdurezak einen tiefen Seufzer ausstieß, fiel Arri wieder ein, wie man den Alten hinter seinem Rücken nannte: den Schwätzer. Auch seinen richtigen Namen hätte sie wissen müssen, aber er wollte ihr beim besten Willen nicht einfallen: Vielleicht auch einfach deshalb nicht, weil Schwätzer so gut zu ihm passte.
»Es hat inzwischen nicht nur drei, sondern fünf Tote gegeben«, stieß der Alte anklagend hervor. »Karan, der Halbwaise, und der kleine Juri, sie haben den Morgen nicht überlebt. Und noch immer winden sich zahllose andere in Krämpfen. Willst du denn nicht dein Gewissen erleichtern und uns endlich verraten, mit welchen bösen Kräutern du den Opfertrank versetzt hast?«
Arri zog es vor, nicht darauf zu antworten. Sie hatte nichts getan. Warum also sollte sie sich verteidigen?
»Gib zu, dass du eine Drude bist«, fuhr der Schwätzer fort, »dass du mit den bösen Geistern ein finsteres Bündnis geschmiedet hast, um uns alle zu verderben!«
Müde schüttelte Arri den Kopf. »Ich bin keine Drude. Und ich verwende auch keine bösen Kräuter …«
Der Schwätzer schnitt ihr mit einer ärgerlichen Handbewegung das Wort ab. »Spar dir deine dummen Ausflüchte. Ob giftige Kräuter, verdorbene Pilze oder die galligen Eingeweide eines tollwütigen Tieres – es bleibt sich letztlich gleich, womit
Weitere Kostenlose Bücher