Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
Das saß. Aber vielleicht lag auch darin etwas Wahres.
»Eines Tages werde ich nicht mehr da sein«, sagte der Schamane. »Und dann musst du selbst in der Lage sein, zu dir zurückzufinden. Und zu den Weisheiten, die dir die Stammväter vermitteln können. Also fängst du am besten jetzt gleich damit an.«
»Was?«
Der Schamane antwortete nicht. Und Lexz begriff, dass er das auch nicht mehr tun würde – zumindest jetzt nicht, und vielleicht auch niemals wieder.
Plötzlich spürte Lexz eine Art des Verlustes, wie er ihn noch nie zuvor empfunden hatte, noch nicht einmal nach dem Tod seines Bruders. Er war allein. Torgon und Ekarna entfernten sich immer mehr von ihm, und das, was jetzt noch an sein Ohr drang, war viel zu fern, als dass er irgendeine Schlussfolgerung hätte daraus ziehen können.
Eine Falle war nur dann vollkommen, wenn sie kein Schlupfloch ließ. Das wusste Arri, und wenn es irgendeine andere Möglichkeit gegeben hätte, als das Haus durch den Vordereingang zu verlassen, dann hätte sie sie mit Sicherheit gewählt. Aber so blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als die Tür aufzustoßen und aus dem Halbdunkel heraus auf den Weg hinauszuspringen …
Nein!, schrie irgendetwas in ihr, und sie bremste noch vor dem Ausgang ab, verhielt mitten in der Bewegung wie ein Reh, das von Jägern in eine Schlucht gehetzt worden ist und nun keinen Ausweg mehr sieht. Ihr Blick irrte im Raum umher, ihr Herzschlag überschlug sich fast, und sie wusste nicht, was sie tun sollte: durch die Tür stürzen oder wieder zurück in den Raum, sich mit Larkar beraten, oder einfach auf eigene Faust handeln …
Als hinter ihr die ersten Männer die Treppe hinunterpolterten und der Lehmboden unter ihr erzitterte, konnte sie gar nicht mehr anders … nun stieß sie die Tür doch auf und stürmte hindurch, ihre Stange zum Zuschlagen bereit.
Es wartete jedoch keine zweite Gruppe bewaffneter Männer auf sie, auf die sie hätte einschlagen können und müssen, es war niemand da – bis auf ein kleines mageres Kätzchen, das ihr den Weg versperrte und sie aus schielenden Augen anstarrte.
Arri versuchte, über das Kätzchen hinwegzuspringen. Aber sie war schon so nah. Ihr Fuß jagte auf die Katze zu, und das Schielen der Katze verstärkte sich noch, was Arri absurderweise überdeutlich und wie verlangsamt bemerkte. Und dann kreischte das kleine Wesen auf. Aus dem Kreischen wurde noch etwas anderes, Schlimmeres, als Arris Fuß das Kätzchen traf und wie ein altes Wollknäuel wegtrat.
Arri stolperte vorwärts. Es war nicht so sehr das Kätzchen, das sie zum Stolpern brachte, als vielmehr ihr eigener Schwung und die zum Schlag erhobene Stange, dies aber so heftig, dass sie lang hinschlug.
Es hatte nicht lange gedauert, bis Lexz begriffen hatte, wie er zu sich selbst finden konnte. Unterwegs pflegte sich der Schamane auf einen ruhigen Platz unter kräftigen alten Bäumen zurückzuziehen, sonst aber bevorzugte er einen Platz inmitten eines magischen Steinkreises. Wann immer Lexz versucht hatte, ihm das nachzumachen, war er gescheitert. Und das war auch kein Zufall.
Kein ruhiges Sitzen half ihm, zu sich zu finden, sondern Bewegung.
Lexz hatte eine unruhige Nacht hinter sich, in der er immer wieder aufgeschreckt war. Aber jetzt, gestärkt durch das frische Wasser des Baches und ein paar Beeren, die er in aller Eile von den Sträuchern am Wegesrand abgerissen hatte, war er in einen ruhigen und einigermaßen gleichmäßigen Lauf gefallen. Die teilweise Lähmung, die ihn in der Nacht so erschreckt hatte, war einem leicht tauben Gefühl in Armen und Beinen gewichen. Entgegen seiner Befürchtung musste er aber nicht schon bald wieder eine Rast einlegen, sondern fühlte sich ganz im Gegenteil mit jedem weiteren Schritt ein kleines Stück mehr von der Last befreit, die ihn niedergedrückt hatte.
Die frische Luft tat ihm gut und klärte seine Gedanken. Noch immer war er in großer Sorge um seine Gefährten. Doch jetzt war noch etwas anderes hinzugekommen: die Gewissheit, dass sie nicht tot waren.
Er war sicher, dass er es gespürt hätte, wenn Torgons und Ekarnas Lebensfaden gerissen wäre. Leider bezog sich dieses Gefühl aber nur auf die beiden, nicht auf Larkar und Sedak.
An einigen Stellen, die er passierte, waren regelrechte Breschen ins Unterholz geschlagen worden. Es waren Spuren des Kampfes, der hier mit heftiger Wucht ausgetragen worden war. Lexz stieß jedoch auf keinen Toten, und auch auf sonst nichts, was darauf hingedeutet
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