Die historischen Romane
durch die Rue du Cherche-Midi gekommen, und zwar in so großer Zahl, dass die letzten Verteidiger des Carrefour du Croix-Rouge vernichtet worden sein müssen.
Ich gelangte durch Nebengassen, unter Vermeidung von Richtungen, aus denen ich Gewehrfeuer hörte, zurück in meine Impasse Maubert. An den Häusermauern sah ich frisch geklebte Plakate, mit denen der Wohlfahrtsausschuss die Bürger zur letzten Verteidigung aufrief ( »Aux barricades! L’ennemi est dans nos murs. Pas d’hésitations!« ).
In einem Bierlokal an der Place Maubert erfuhr ich die neuesten Nachrichten: Siebenhundert Kommunarden waren in der Rue Saint-Jacques standrechtlich erschossen worden, das Pulvermagazin vom Jardin du Luxembourg war in die Luft geflogen, zur Vergeltung hatten die Kommunarden sich einige Geiseln aus dem Gefängnis von La Roquette geholt, darunter den Erzbischof von Paris, und hatten sie an die Wand gestellt. Einen Erzbischof zu erschießen, das markiert einen Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Um die Normalität wiederherzustellen, musste das Blutbad vollendet werden.
Aber plötzlich, während man mir von diesen Ereignissen erzählte, kamen einige Frauen herein, die mit Jubelrufen von den anderen Gästen begrüßt wurden. Es waren die femmes , die zu ihrer brasserie zurückkehrten! Die Regierungssoldaten aus Versailles hatten die von der Kommune verbannten Prostituierten mitgebracht und ließen sie in der Stadt wieder frei zirkulieren, als wollten sie ein Zeichen setzen, dass nun alles wieder seinen normalen Gang gehen werde.
Ich hielt es nicht länger aus unter diesem Gesindel. Sie verhöhnten das einzig Gute, was die Kommune getan hatte.
In den Tagen darauf erlosch die Kommune, nach einem letzten Gefecht Mann gegen Mann mit blanker Waffe auf dem Friedhof Père-Lachaise. Hundertsiebenundvierzig Überlebende, so erzählte man, waren dabei gefangengenommen und standrechtlich erschossen worden.
So haben sie gelernt, ihre Nase nicht in Dinge zu stecken, die sie nichts angehen.
18.
Protokolle
Aus den Aufzeichnungen vom 10. und 11. April 1897
Nach dem Ende des Krieges konnte Simonini seine gewohnte Arbeit wieder aufnehmen. Nach all den Todesfällen, die es gegeben hatte, waren Erbschaftsprobleme zum Glück an der Tagesordnung, sehr viele junge Leute, die an der Front oder auf den Barrikaden gefallen waren, hatten noch nie daran gedacht, ein Testament zu machen, und so war Simonini mit Arbeit eingedeckt – und mit Erlösen überhäuft. Wie schön ist der Frieden, wenn es vorher ein opferreiches Großreinemachen gab.
Sein Tagebuch übergeht daher die notarielle Routine der folgenden Jahre und deutet nur den immer noch vorhandenen Wunsch an, wieder Kontakte zu möglichen Käufern seines Dokuments über den Friedhof in Prag zu knüpfen. Er wusste nicht, was Goedsche inzwischen getan hatte, doch er musste ihm zuvorkommen. Auch weil die Juden seltsamerweise fast während der ganzen Zeit der Kommune verschwunden schienen. Hatten sie als eingefleischte Verschwörer heimlich die Fäden der Kommune gezogen, oder hatten sie sich umgekehrt als Kapitalakkumulierer in Versailles versteckt, um die Nachkriegszeit vorzubereiten? Immerhin standen sie hinter den Freimaurern, und die Pariser Freimaurer hatten sich mit der Kommune solidarisiert, die Kommunarden hatten einen Erzbischof erschossen, und die Juden mussten irgendwas damit zu tun haben. Sie töteten kleine Kinder, wieso dann nicht auch Erzbischöfe.
Während er so hin- und herüberlegte, hörte er es eines Tages im Jahre 1876 unten klingeln, und an der Tür erschien ein älterer Herr in Soutane. Simonini dachte zuerst, es sei der übliche satanistische Abbé, der gekommen sei, um geweihte Hostien zu erstehen, aber als er genauer hinsah, erkannte er unter dem dichten, inzwischen weißen, aber immer noch schön gewellten Haar nach fast dreißig Jahren den Pater Bergamaschi.
Für den Jesuiten war es ein bisschen schwieriger, sich zu vergewissern, dass er seinen einstigen Schüler Simonino vor sich hatte, vor allem wegen des Bartes (der nach dem Krieg wieder schwarz geworden war, mit ein paar graumelierten Strähnen, wie es sich für einen Mittvierziger gehörte). Dann aber leuchteten seine Augen auf, und er sagte lächelnd: »Aber ja, du bist Simonino, du bist es noch immer, nicht wahr, mein Junge? Warum lässt du mich hier in der Türe stehen?«
Er lächelte, aber auch wenn wir nicht soweit gehen wollen zu sagen, es sei das Lächeln eines Tigers, so war es doch
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