Die historischen Romane
machen. Zu der Zeit, als Simonini seine Rechnung mit Joly beglich, galten noch die Theorien eines gewissen Bertillon, die auf den Messungen des Skeletts und anderer Körperteile des Verdächtigen beruhten. Keinem Menschen wäre der Verdacht gekommen, dass Jolys Tod kein Suizid war.
Simonini sammelte den Packen Zeitungen wieder ein, wusch die beiden Tassen ab, aus denen sie Kaffee getrunken hatten, und ließ das Appartement in guter Ordnung zurück. Wie er später erfuhr, hatte der Concierge des Hauses, als ihm auffiel, daß Joly seit zwei Tagen nicht mehr zu sehen war, das Kommissariat des Viertels von Saint-Thomas-d’Aquin gerufen. Man hatte die Tür aufgebrochen und die Leiche gefunden. Aus einer kurzen Zeitungsmeldung ging hervor, dass die Pistole am Boden gelegen hatte. Offenbar hatte Simonini sie dem Toten nicht gut in die Hand gedrückt, aber das machte nichts. Zu seinem größten Glück lagen auf dem Tisch Briefe an die Mutter, die Schwester, den Bruder… In keinem war explizit von Selbstmord die Rede, aber alle waren von einem tiefen und edlen Pessimismus durchtränkt. Sie schienen mit voller Absicht geschrieben. Und wer weiß, ob der Ärmste nicht wirklich die Absicht gehabt hatte, sich umzubringen, in welchem Falle Simonini sich all die Mühe hätte ersparen können.
Es war nicht das erste Mal, dass Dalla Piccola seinem Mitbewohner Dinge enthüllte, die er vielleicht nur in der Beichte erfahren hatte und an die sich der andere nicht erinnern wollte. Simonini war darüber ein bisschen entrüstet und schrieb ein paar erboste Sätze an den Rand des Tagebuchs.
Sicherlich ist das Dokument, dass der ERZÄHLER hier zu resümieren versucht, noch voller Überraschungen, und vielleicht würde es sich eines Tages lohnen, daraus einen Roman zu machen.
19. Osman-Bey 14
11. April 1897, abends
Lieber Abbé, ich vollbringe größte Anstrengungen, um meine Vergangenheit zu rekonstruieren, und Sie unterbrechen mich dauernd wie ein pedantischer Hauslehrer, der mir auf Schritt und Tritt meine Orthographiefehler vorhält… Sie lenken mich ab. Sie bringen mich durcheinander. Ja gut, ich habe auch Joly umgebracht, aber ich wollte einen Zweck erreichen, der die kleinen Mittel, die ich benutzen musste, heiligen würde. Nehmen Sie sich ein Beispiel am politischen Weitblick und an der Kaltblütigkeit von Pater Bergamaschi und bezähmen Sie Ihre krankhafte Aufdringlichkeit…
Nachdem ich nun weder von Joly noch von Goedsche mehr erpresst werden konnte, konzentrierte ich mich auf die Arbeit an meinen neuen Prager Protokollen (wie ich sie jetzt nannte). Ich musste mir etwas Neues ausdenken, denn meine alte Szene auf dem Friedhof in Prag war inzwischen zu einem quasi romanhaften Gemeinplatz geworden. Nachdem die Zeitschrift Le Contemporain den Brief meines Großvaters veröffentlicht hatte, brachte sie ein paar Jahre später die Rede des Rabbiners wie einen Tatsachenbericht, den sie von einem englischen Diplomaten namens Sir John Readcliff erhalten haben wollte. Da Goedsche seinen Roman unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe veröffentlicht hatte, war klar, woher der Text stammte. Inzwischen habe ich aufgehört zu zählen, wie oft die Friedhofsszene von verschiedenen Autoren aufgegriffen worden ist; gerade jetzt meine ich mich zu erinnern, dass kürzlich ein gewisser Bournand ein Buch mit dem Titel Les juifs nos contemporains veröffentlicht hat, in dem die Rede des Rabbiners erneut auftaucht, nur dass John Readclif (mit einem f) jetzt der Name des Rabbiners ist. Mein Gott, wie kann man in einer Welt voller Fälscher leben?
Ich suchte also nach Neuigkeiten, um sie zu protokollieren, und verschmähte es auch nicht, mich aus schon gedruckten Werken zu bedienen, da ich überzeugt war, dass – einmal abgesehen von dem unglückseligen Fall des Abbé Dalla Piccola – meine potentiellen Kunden keine Leute sein würden, die ihre Tage in Bibliotheken verbringen.
Eines Tages sagte mir Pater Bergamaschi: »In Russland ist ein Buch über den Talmud und die Juden erschienen, von einem gewissen Lutostansky. Ich werde versuchen, es mir zu besorgen und von meinen Mitbrüdern übersetzen zu lassen. Aber erstmal gibt es da noch einen anderen, mit dem du reden solltest. Hast du jemals von Osman-Bey gehört?«
»Ist das ein Türke?«
»Vielleicht ein Serbe, aber er schreibt in deutscher Sprache. Ein Buch von ihm über die Eroberung der Welt durch die Juden ist schon in mehrere Sprachen übersetzt worden, aber ich denke, er braucht
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