Die Hitzkammer
Orientierungshilfe verzichtet, denn er wusste, er hatte sich immer nur links zu halten, um den großen Höhlendom zu erreichen. Und immer nur rechts, um zurückzufinden.
Langsam strebte er voran, passierte drei Weggabelungen – und landete prompt wieder in dem blinden Gang. Er verwünschte seine Gedankenlosigkeit, kehrte um, hielt sich abermals immer links und erreichte endlich die Felsenhalle. Unterwegs hatte er sich schon überlegt, wie er vorgehen wollte, um den vermissten Torso aufzuspüren. Es gab nur eine Möglichkeit: Vorausgesetzt, er hatte den Boden beim ersten Mal gründlich abgesucht, und das hatte er, konnte der kopflose Leib nur in einem der beiden gegenüberliegenden Gänge liegen.
Lapidius setzte nun behutsam Schritt vor Schritt – und blieb abrupt stehen.
Jemand war hier vor ihm gewesen!
Dafür sprachen die Dinge auf dem Boden: eine Schüssel mit Weihrauchklumpen, daneben ein paar kräftige Stricke und ein Messer, dessen Klinge im matten Licht des Lämpchens blitzte.
War es das Messer, das ihn fast getötet hätte? Er hob es auf und erkannte, dass es sich um einen Hirschfänger handelte. Die Waffe war spitz und scharf und hatte einen Griff aus Horn. Darauf eingeritzte Buchstaben. Lapidius fühlte sich fatal an die Stirn von Gunda Löbesam erinnert, stellte aber fest, dass er es hier mit anderen Lettern zu tun hatte:
DRJO
entzifferte er, wobei der letzte Buchstabe auch ein G sein konnte. Die Abkürzung sagte ihm, trotz angestrengten Nachdenkens, nichts. Er legte die Waffe wieder ab und entdeckte eine Säge. Es war kein Werkzeug, wie Zimmerleute es benutzten, sondern eine Knochensäge. Waren damit die Halswirbel der Ermordeten durchtrennt worden?
Zwei eiserne Töpfe rückten in sein Blickfeld. An den blutgefüllten Topf bei seinem ersten Besuch denkend, schaute er vorsichtig hinein. Gottlob waren beide leer.
Lapidius ging weiter und kam an den Fackeln vorbei. Er konnte sich täuschen, aber er hatte den Eindruck, es seien mehr geworden. Schließlich gelangte er zur Öffnung des linken gegenüberliegenden Ganges. Er schlüpfte hinein, langsam und dabei aufmerksam nach allen Seiten spähend. Ein paar Pferdedecken tauchten aus der Dunkelheit auf, nachlässig zusammengefaltet und übereinander gelegt. Wer immer in der Höhle seine Rituale abhielt, er mochte hier geschlafen und sich damit gewärmt haben.
Dann endete der Pfad.
Lapidius tastete sich zurück und betrat ohne große Erwartungen den anderen Gang. Dort tat sich ein ähnliches Bild auf: holperiger Boden vor ihm, feuchte Wände neben ihm und dann und wann ein davonhuschendes Insekt. Fünfundzwanzig oder dreißig Fuß weiter versperrten ihm schwere Steine den Weg. Kurz dahinter endete auch dieser Gang. Lapidius war enttäuscht. Insgeheim hatte er doch gehofft, den Torso hier zu entdecken. Aber er bemerkte nichts, das ungewöhnlich gewesen wäre.
Bis auf den Geruch.
Er lag auf einmal in der Luft, und j e näher er den Steinen kam, desto stärker wurde er. Er kannte diesen widerwärtigen Geruch. Es war der Gestank nach Leiche. Lapidius kniete nieder und nahm einen der Steine fort. Ein nackter Fuß wurde sichtbar. Dann noch einer. Dann die Beine, die sich, fahl und schon leicht aufgedunsen, anfühlten wie feuchter Kautschuk. Übelkeit überkam ihn. Er kämpfte dagegen an und arbeitete weiter. Stück um Stück, Stein um Stein, wurde die Leiche nun sichtbar. Es handelte sich um eine Frauenleiche, nackt und bloß. Und – ohne Kopf.
Trotz der Kühle in der Höhle brach Lapidius der Schweiß aus. Er hatte den Torso gefunden, der zu dem Frauenkopf gehörte. Was war zu tun? Sollte er den Rumpf einfach wieder zudecken? Nein, er würde vorher noch den Rücken der Leiche untersuchen. Er wollte wissen, ob sie dort Blutergüsse aufwies, wie er sie unter Gunda Löbesams Schulterblättern gefunden hatte. Fünf an der Zahl waren es gewesen, angeordnet wie die Fünf auf einem Würfel.
Doch dazu musste das Öllämpchen einen anderen, höheren Platz erhalten, welchen zu finden sich als gar nicht so einfach herausstellte. Schließlich entdeckte er einen Felssockel, der dem gewünschten Zweck dienlich sein mochte. Lapidius, immer noch kniend, musste sich gehörig vorbeugen, um die Lichtquelle darauf absetzen zu können. Und dann passierte alles auf einmal:
Er sah den Teufel.
Er prallte zurück.
Er ließ die Lampe fallen.
Augenblicklich umfing ihn schwärzeste Finsternis. Lapidius lag rücklings zwischen den Steinen, den Leichenrumpf unter sich. Nur
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