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Die Hitzkammer

Die Hitzkammer

Titel: Die Hitzkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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passierte es. Ihr ausladendes Hinterteil streifte einen kleinen Alambic. Das Glasgefäß rutschte über den Tischrand, fiel auf den Dielenboden und zerbarst in tausend Stücke. Eine Dampfwolke entwich zischend.
    »Jesus, Maria und Joseph!« Marthe rang die Hände. »Das habich nich gewollt, Herr! Habs doch nur gut gemeint. Entschuldicht, Herr! «
    Lapidius presste die Lippen zusammen. Er brauchte seine ganze Kraft, um die Magd nicht zu packen und gehörig durchzuschütteln. Sie wusste genau, dass er beim Experimentieren keine Störungen duldete, und dennoch vergaß sie es immer wieder.
    »Oh, oh, oh …!«
    Sie wollte sich bücken, um die Scherben aufzuheben, doch er stieß sie beiseite. »Lass das. Du könntest die Dämpfe einatmen.«
    »Ja, Herr. Oh, Herr, mir tuts so Leid!«
    »Zurück mit dir in die Küche.«
    »Ja, Herr. Wie kannich das nur wieder gutmachen!« Jammernd entfernte sich Marthe.
    Lapidius blieb zurück, bemüht, seinen Ärger niederzukämpfen. Der Alambic war ein kleines, aber wichtiges Glied in seiner Versuchsanordnung gewesen. Ohne ihn ging es mit der Variatio VI nicht weiter. Er musste einen neuen haben, wenigstens leihweise. Aber woher? Er überlegte. Da waren der Stadtmedicus und der Apotheker. Beide mochten etwas Derartiges besitzen, denn beide beschäftigten sich von Berufs wegen mit der Herstellung von Arzneien. Vielleicht eher noch der Apotheker. Ihn würde er bitten, zumal sein Laden näher lag als das Haus des Medicus. Er beschloss, sich sofort auf den Weg zu machen. Ganz gegen seine sonstige Art ging er grußlos aus der Tür. Er wollte Marthe mit ihrem schlechten Gewissen ruhig noch ein wenig schmoren lassen.
    Sein Weg führte ihn über den Kreuzhof zum Gemswieser Markt, wo auch an diesem Morgen wieder viel Betriebsamkeit herrschte. Ungewöhnlich viel, wie er feststellte. Was war da los? Besonders in einer Ecke drängte sich alles. Hektisch schrien die Menschen dort aufeinander ein, blickten immer wieder auf etwas am Boden Liegendes oder standen mit aschfahlen Gesichtern einfach nur da. Ein Wagen war in der Aufregung umgestoßen worden, doch niemand kümmerte sich darum. Die feilgehaltenen Waren, darunter Trockenfrüchte, Esskastanien und Bucheckern, hatten sich wie ausgesät auf den Pflastersteinen verteilt. Lapidius musste höllisch Acht geben, um nicht auszurutschen, als er mit langen Schritten heraneilte. Dank seiner Größe fiel es ihm leicht, über die Köpfe der anderen hinwegzusehen und einen Blick auf das zu erhaschen, was die Ursache des Tumultes war: ein toter Körper in einer Lache von Blut.
    Ein Frauenkörper, wie die langen blonden Haare, die unter dem abdeckenden Tuch hervorquollen, verrieten. Der Stadtbüttel – Lapidius vermutete, dass es derselbe Mann war, der ihm den Ruf in die Folterkammer übermittelt hatte – stand neben der Leiche und sah fragend in die Runde der Gaffer. »Und niemand von euch will die Tote kennen? Erzählt mir keine Märchen! «
    Ein altes, verhutzeltes Weiblein krächzte: »Mein Gott, Krabiehl, wenn wirs dir doch sagen. Niemand hätt nix davon, dir was vorzumachen.«
    »Hmja, das stimmt«, bestätigte Krabiehl, sich der Wichtigkeit seiner Person bewusst. »Trotzdem komisch, wo ihr Marktleute doch sonst alles wisst und das Gras wachsen hört.«
    Lapidius meldete sich zu Wort: »Vielleicht trägt die Tote etwas bei sich, durch das sie identifiziert werden kann?«, sagte er.
    Der Büttel musterte ihn. »Nun, die Tote wurde bereits von mir durchsucht, und nichts deutet auf ihren Namen hin. Nur die beiden Buchstaben, die man ihr blutig in die Stirn geschnitten hat.« Krabiehl schlug das Tuch ein kleines Stück zurück. »Abscheulich. Habe etwas Derartiges noch nie gesehen. Es handelt sich wohl um ein E und ein S.«
    Lapidius stand inzwischen unmittelbar neben der Toten. Was der Büttel behauptete, war richtig. Jemand hatte die Buchstaben in die Haut geritzt. Wahrscheinlich mit einem Messer. Die Wunden hatten nur schwach geblutet, was die Vermutung nahe legte, dass die Frau anderswo noch schwerere Verletzungen davongetragen hatte. »Leider kenne auch ich die Frau nicht«, sagte Lapidius.
    »Das dachte ich mir«, entgegnete der Büttel. »Tatsächlich scheint niemand sie zu kennen, selbst der alte Holm nicht, der sie gefunden hat. Ihr seid der Magister Lapidius, nicht wahr?«
    »Ganz recht.« Eine Pause entstand. Lapidius spürte, wie sich plötzlich alle Augen auf ihn richteten. Dann sah er, wie einige der Marktweiber die Köpfe zusammensteckten. Sie

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