Die Hofnärrin
Jeder
fürchtete, die Stadtwachen könnten bestochen werden, die Festung könnte
durch Verrat fallen. Doch stärker als all dies war eine Art blinder
Glaube, dass die Franzosen einfach nicht gewinnen konnten. Philipp von
Spanien war ein brillanter Heerführer, und er wurde unterstützt von den
besten Offizieren der englischen Armee – was also sollten die
Franzosen ausrichten gegen eine Armee wie die unsere oder eine Festung
wie Calais?
Doch bald verdichteten sich die Gerüchte über den
französischen Vormarsch. Eine Kundin in meinem Laden warnte Marie, wir
sollten unsere Bücher verstecken und unser Geld vergraben.
»Warum?«, fragte ich Marie.
Sie war ganz bleich geworden. »Ich bin Engländerin!«, schwor
sie. »Meine Großmutter war eine reinblütige Engländerin.«
»Ich zweifle ja gar nicht an deiner Staatstreue«, erwiderte
ich, bass erstaunt, dass jemand ausgerechnet vor mir, dem Mischling
durch Herkunft, Erziehung und Religion, seine reine Abstammung beweisen
wollte.
»Die Franzosen kommen«, sagte sie. »Diese Frau stammt aus
meinem Dorf und ist von einer Freundin gewarnt worden. Sie ist nach
Calais gekommen, um Schutz zu suchen.«
Die Frau aus Maries Dorf war der erste Flüchtling von vielen.
Ein stetiger Strom von Menschen aus dem englischen Umland zeigte, dass
die meisten die uneinnehmbare Stadt für die beste Wahl hielten.
Die Kaufmannsgilde, der eigentliche Herrscher der Stadt,
richtete ein Übernachtungslager im Stapelhaus ein, stockte die
Lebensmittelvorräte der Stadt auf und ermahnte alle gesunden jungen
Männer und Frauen von Calais, sich auf eine Belagerung einzurichten.
Die Franzosen waren zwar im Anmarsch, aber die englisch-spanische Armee
saß ihnen im Nacken. Wir sollten keine Angst haben, aber auf alles
vorbereitet sein.
Doch in dieser Nacht fiel Fort Nieulay, eine der acht
Festungen, die Calais umgaben. Der Verlust als solcher wäre gering
gewesen, doch Nieulay stand am Fluss Harnes und kontrollierte die
Schleusen, durch welche die Kanäle rund um Calais geflutet werden
konnten, damit kein Heer sie überschreiten sollte. Nun, da Nieulay sich
in den Händen der Franzosen befand, blieben uns zur Verteidigung nur
die anderen Festungen und die mächtigen Mauern unserer Stadt. Wir
hatten unseren äußeren Verteidigungsring verloren.
Schon am nächsten Tag vernahmen wir das Donnern der Geschütze,
und ein neues Gerücht verbreitete sich in der Stadt. Fort Risban, die
neu erbaute und verstärkte Festung, die den Binnenhafen von Calais
sicherte, war ebenfalls in die Hände des Feindes gefallen. Nun war der
Hafen schutzlos den französischen Schiffen preisgegeben, und die
englischen Schiffe, die dort vor Anker lagen, konnten jeden Moment
eingenommen werden.
»Was sollen wir nur tun?«, fragte Marie verzweifelt.
»Es sind nur zwei Festungen«, erwiderte ich trotzig und
versuchte, meine eigene Angst zu verbergen. »Das englische Heer weiß
bestimmt, dass wir belagert werden, und ist schon zu unserer Rettung
unterwegs. Du wirst sehen, binnen drei Tagen sind sie da.«
Doch es waren die Franzosen, die sich in Schlachtreihen vor
den Mauern von Calais aufbauten, es waren französische Arkebusiere, die
einen Hagel Pfeile über die Mauerkrone schossen, wodurch vereinzelte
Flüchtlinge auf der Straße getroffen wurden.
»Die Engländer werden kommen«, behauptete ich
unerschütterlich. »Lord Robert wird die Franzosen von hinten angreifen.«
Wir verrammelten die Läden und zogen uns ins Hinterzimmer
zurück, voller Angst, dass das große Stadttor, das unserem kleinen
Laden so nahe lag, ein Hauptangriffsziel bilden würde. Die Franzosen
schleppten Belagerungsgerät heran. Selbst aus unserem Versteck im
Hinterzimmer konnte ich das Wummern des Rammbockes gegen die
verbarrikadierten Tore vernehmen. Unsere Soldaten auf den
Festungswällen feuerten eifrig auf die Angreifer und versuchten,
besonders die Bediener des Rammbockes zu treffen. Ich hörte ein Brausen
und Zischen, als ein großer Kessel mit kochendem Teer an die Mauer
geschafft und über die Angreifer ausgegossen wurde, ich hörte die
grauenvollen Schreie der Verbrannten. Halb tot vor Angst verkrochen
Marie und ich uns hinter der Ladentür, als ob die dünnen Holzplanken
uns Schutz böten. Ich wusste weder, was ich tun, noch wohin ich
flüchten sollte. Einen Augenblick überlegte ich, durch die Straßen zu
Daniels Haus zu laufen, doch ich hatte zu viel Angst, meine Haustür
aufzusperren. Überdies war es draußen noch gefährlicher: Jeden
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