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Die Hofnärrin

Die Hofnärrin

Titel: Die Hofnärrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Gregory
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ich sie: Daniels Geliebte, völlig
beschmutzt, das hübsche Kleid halb von der Schulter gerissen, die Brust
entblößt. Der kleine Junge saß auf ihrer Hüfte, klammerte sich mit weit
aufgerissenen Augen an seine Mutter. Ihr Haar hing lose herab, sie
hatte ein blaues Auge und rannte in wilder Panik wie ein flüchtendes
Reh über die Straße, schlitterte immer wieder und stolperte.
    Sie erkannte mich sofort. Sie hatte mich beobachtet, so wie
ich sie beobachtet hatte, sonntags in der Kirche, in der wir beide auf
die hinteren Bänke der Schande verbannt waren.
    »Hannah!«, rief sie mir entgegen. »Hannah!«
    »Was ist?«, rief ich ärgerlich. »Was willst du?«
    Sie hielt mir ihr Kind hin. »Nimm ihn!«
    Sogleich stand mir die bestürzende Vision vor Augen, die ich
nach unserer ersten Begegnung in der Kirche gehabt hatte. Wie damals
war die Szenerie von Schreien und donnerndem Lärm begleitet. Auch in
meiner albdruckhaften Vision hatte sie gerufen: »Nimm ihn!« In diesem
Moment verdüsterte sich der Himmel durch einen Geschosshagel, und ich
duckte mich in einen Hauseingang. Doch unbeirrt hielt sie weiter auf
mich zu, wich den fallenden Steinen aus. »Hannah! Hannah! Ich brauche
deine Hilfe!«
    »Geh nach Hause!«, rief ich wenig hilfreich. »Verbirg dich in
deinem Keller oder sonst wo.«
    Das letzte Pferd verließ soeben den Platz, und wir hörten das
Ächzen der Gegengewichte, als das große Tor für Lord Robert und seine
Kavallerie geöffnet wurde. Sie ritten hinaus und trafen mit wütenden
Schlachtrufen auf das französische Heer.
    »Sie reiten fort?«, rief Daniels Geliebte entsetzt aus. »Sie
lassen uns im Stich?«
    »Nein, sie reiten in die Schlacht. Such dir einen
Unterschlupf …«, schrie ich ungeduldig.
    »Gott schütze uns, sie brauchen ihnen nicht entgegenzureiten,
sie sind hier! Sie sollen wenden – und kämpfen! Die Franzosen
sind bereits hier! In der Stadt! Wir sind verloren!«, rief sie. »Sie
haben mir …«
    Plötzlich ging mir der Sinn ihrer Worte auf, und ich
betrachtete sie genauer. Und begriff die Bedeutung von blauem Auge und
zerrissenem Kleid. Die Franzosen waren in der Stadt – und
hatten ihr Gewalt angetan.
    »Sie sind beim Hafen hereingekommen! Vor zehn Minuten!«,
kreischte sie, und während sie noch kreischte, sah ich hinter ihr
zahllose Reiter auftauchen, die französische Kavallerie, hier in den
Straßen der Stadt. Sie würden meinem Lord in den Rücken fallen, ihm den
Rückzug zum Hafen abschneiden. Die Pferde hatten Schaum vor den
Mäulern, die Lanzen waren stoßbereit ausgerichtet, die Visiere
verliehen ihren Trägern Eisengesichter, Sporen stießen die Flanken der
Pferde blutig, die Hufe prasselten auf dem Pflaster … Es war
der albtraumhafte Angriff einer Kavallerie auf engstem Raum. Die Ersten
waren schon da, eine Lanze zielte auf mich, und ohne mich einen
Augenblick zu besinnen, riss ich meinen Dolch aus dem Stiefel und
parierte den Angriff. Der Hieb schlug mir zwar das Messer aus der Hand,
rettete mir jedoch das Leben, denn ich taumelte rückwärts gegen die Tür
eines Hauses, diese gab nach und ich stürzte in die sichere Dunkelheit,
während Daniels Geliebte schrie: »Rette mein Kind! Nimm ihn! Nimm ihn!«
    Sie lief auf mich zu und hielt mir den Jungen hin, drückte ihn
in meine Arme – ein warmes, weiches, schweres Bündel
Mensch –, doch ich hörte mich sagen: »Ich kann ihn nicht
nehmen.«
    Sie wurde von einer Lanze durchbohrt, ich sah, wie diese am
Rücken wieder austrat, dennoch schrie sie unablässig: »Nimm ihn! Nimm
ihn!« In diesem Augenblick ertönte ein grässlicher Krach geborstenen
Holzes, als stürze ein ganzer Wald ein, ich taumelte rückwärts in das
dunkle Haus, den Jungen fest an mich gedrückt, und die Haustür fiel mit
einem Knall zu.
    Eben wollte ich den Mächten danken, die mich gerettet hatten,
doch bevor ich ein Wort herausbrachte, loderten Flammen auf und heißer
Rauch wehte mir ins Gesicht. Jemand stürmte an mir vorbei und riss die
Tür wieder auf.
    Das Strohdach meiner zeitweiligen Zuflucht stand in Flammen,
es brannte wie ein Scheiterhaufen, ging binnen Sekunden in Rauch auf.
Alle, die sich in dem Haus versteckt hatten, drängten nun auf die
Straße; lieber wollten sie sich der gnadenlosen Kavallerie stellen als
bei lebendigem Leibe zu verbrennen, und ich, wie eine vom Rauch
verängstigte Ratte, flitzte ihnen hinterher, das Kind eng an meine
Schulter gepresst.
    Zum Glück waren die Straßen im Moment frei. Die französischen
Reiter waren

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