Die Hofnärrin
Moment
konnte man von einer Geschützkugel oder einem brennenden Pfeil
getroffen oder von einem Mann unserer Reservetruppen über den Haufen
gerannt werden.
Dann hörten wir Pferdegetrappel, und mir wurde klar, dass sich
die Reste des in der Stadtgarnison befindlichen englischen Heeres zu
einem Gegenangriff sammelten. Vermutlich glaubten sie, nachdem die
Franzosen von den Stadttoren vertrieben worden waren, würde sich das
umgebende Land zurückerobern lassen und die Stadt wäre vom Druck des
Angriffs befreit.
Wir hörten die Pferde vorbeigaloppieren, dann Stille, als sie
sich am Tor sammelten. Wenn die Soldaten hinauswollten, musste jedoch
das Tor geöffnet werden – und damit würde mein kleiner Laden
mitten im Gefecht liegen.
Nun war es so weit. Auf Französisch flüsterte ich Marie zu:
»Wir müssen so schnell wie möglich hier heraus. Ich laufe zu Daniel,
willst du mitkommen?«
»Ich gehe zu meinen Cousins in der Nähe des Hafens.«
Ich kroch zur Tür und öffnete sie einen Spalt breit. Die
Straße bot einen furchtbaren Anblick. Das Chaos war ausgebrochen:
Soldaten rannten mit Waffen die steinerne Treppe zum Festungswall
hinauf, Verwundete wurden herabgetragen. Ein zweiter Kessel mit Teer
wurde über offenem Feuer nur wenige Meter vom Strohdach meines
Nachbarhauses erhitzt. Und jenseits des Tores erscholl der furchtbare
Kampflärm einer feindlichen Streitmacht, die auf unsere Tore
einstürmte, unsere Mauern zu erklettern versuchte und dabei unablässig
mit der Kanone feuerte, um eine Bresche in die Mauer zu schlagen.
Ich stieß die Tür auf – und hörte fast augenblicklich
die grauenvollen Schreie einer Gruppe Soldaten, die oberhalb meines
Ladens auf dem Wall von einem Pfeilhagel getroffen worden waren. Marie
und ich flüchteten auf die Straße. Hinter uns, vor uns, überall
erscholl furchtbares Donnern. Das französische Katapult hatte eine
gewaltige Ladung Steine und Geröll über die Stadtmauer geschossen. Wie
ein herabstürzender Berg gingen diese auf unsere Straße nieder.
Dachziegel rutschten von den Häusern wie Kartenspiele, Steine
durchschlugen die Strohdächer und knickten Schornsteine um. Es war, als
speie der Himmel Steine und Feuer, es war ein Hexenkessel, aus dem kein
Entkommen möglich war.
»Ich gehe jetzt!«, rief Marie mir zu und stürzte eine Gasse
hinunter, die zum Fischerkai führte.
Ich konnte noch nicht einmal ihren Abschiedsgruß erwidern,
denn der Rauch aus den brennenden Gebäuden stieß mir in den Hals wie
ein Messer und schnitt jeden Laut ab. Der Rauchgestank – der
Gestank aus meinen Albträumen – hing in der Luft, füllte meine
Lungen, sogar meine Augen, und ich konnte kaum atmen. Meine Augen
standen voller Tränen, und ich konnte kaum noch etwas sehen.
Vom Wall drang ein schriller Entsetzensschrei herab. Ich
schaute hoch und sah einen brennenden Mann, dem der Brandpfeil noch in
den Kleidern steckte. Er warf sich zu Boden und rollte herum, um das
Feuer zu ersticken. Er schrie wie ein Ketzer auf dem Scheiterhaufen.
Ich wagte mich aus dem Hauseingang hervor und lief los,
einerlei wohin, ich wollte nur den Gestank eines brennenden Menschen
aus meiner Nase vertreiben. Ich wollte zu Daniel. Er erschien mir wie
der einzige sichere Hafen in einer albtraumhaften Welt. Ich wusste, ich
würde mich durch vollgestopfte Straßen kämpfen müssen, durch Menschen,
die in Panik zum Hafen flüchteten, während die Soldaten in
entgegengesetzter Richtung zum Wall eilten und die Kavallerie mit ihren
Pferden zusätzlich die Straßen verstopfte.
Eng drückte ich mich an eine Mauer, weil eine Abteilung die
Straße entlanggetrabt kam. Schwer hoben und senkten sich die mächtigen
Hufe der Tiere, und ich drückte mich in einen Eingang, aus Angst, sie
würden mich zerstampfen.
Ich wartete auf eine Gelegenheit, meinen Weg fortzusetzen,
sah, wie andere Menschen sich zwischen die Pferde wagten, sah die
Einmündung von Daniels Straße auf der anderen Seite des Platzes, hörte
Männer rufen und Pferde wiehern, hörte den Hornbläser zum Sammeln
blasen – und plötzlich kam mir eine mutige Frau in den Sinn.
Nicht meine Mutter, die dem Tod wie eine Heilige entgegengegangen war,
sondern die Königin, die sich allen widrigen Umständen zum Trotz zum
Kampf gestellt hatte. Sie hatte sich auf ihr Pferd gesetzt und war in
die Dunkelheit hinausgeritten, um für sich und ihre gerechte Sache zu
kämpfen. Und eingedenk dieser Erinnerung fand ich den Mut, den
schützenden Eingang zu verlassen, den
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