Die Hofnärrin
Nachricht mehr
von ihm erhalten. Dies ist sein Sohn. Seit unserer Flucht aus Calais
hat er kein einziges Wort gesprochen, aus Angst, wie ich annehme. Doch
er ist Daniel d'Israelis Sohn, und ihm steht sein Geburtsrecht zu.«
»Ich verstehe Euch«, sagte er sanft. »Könnt Ihr mir
irgendeinen Beweis für Eure Abstammung und Eure Aufrichtigkeit geben?«
Sehr leise fuhr ich fort: »Als mein Vater starb, hat er sein
Gesicht zur Wand gedreht, und wir haben gebetet: ›Gepriesen und
geheiligt sei der Name des Herrn auf der ganzen Welt, denn Er hat sie
geschaffen nach Seinem Willen. Möge Er Sein Königreich errichten für
die Dauer deines Lebens und die Existenz des Hauses Israel; und möge es
geschehen rasch und bald, so sage denn: Amen.‹«
Der Mann schloss die Augen. »Amen.« Dann öffnete er sie
wieder. »Was willst du von mir, Hannah d'Israeli?«
»Mein Sohn spricht nicht«, sagte ich.
»Ist er stumm?«
»Er hat seine Amme in Calais sterben sehen. Seit jenem Tage
hat er nicht ein Wort gesprochen.«
Der Arzt nickte und nahm Daniel auf den Schoß. Sorgfältig
tastete er Gesicht, Augen und Ohren des Kindes ab. Mein Mann, so dachte
ich, hatte diese Fertigkeiten auch gelernt. Nun würde er sie bei
fremden Kindern anwenden. Ich fragte mich, ob er seinen Sohn jemals
sehen würde – und ob ich diesem Kind würde beibringen können,
den Namen seines Vaters zu sagen.
»Ich kann kein körperliches Gebrechen finden, das ihn am
Sprechen hindert«, sagte der Arzt.
Ich nickte. »Er lacht, und er gibt Laute von sich. Aber er
spricht nicht.«
»Willst du, dass ich die Beschneidung durchführe?«, fragte der
Arzt sehr leise. »Sie wird ihn fürs Leben zeichnen. Er wird fortan als
Jude erkennbar sein. Er wird sich selbst als Juden begreifen.«
»Ich trage meinen Glauben in meinem Herzen«, sagte ich mit
einer Stimme, die kaum mehr als ein Wispern war. »Als ich eine junge
Frau war, wusste ich noch nichts. Ich vermisste nur meine Mutter. Doch
nun, da ich älter bin und selber ein Kind habe, weiß ich, dass es mehr
gibt als die Bindung zwischen Mutter und Kind. Es gibt unser Volk und
unseren Glauben. Unsere kleine Familie lebt innerhalb unserer größeren
Familie. Und sie lebt weiter. Ob sein Vater lebt oder nicht, ob ich
lebe oder nicht, spielt keine Rolle, denn das Volk lebt weiter. Selbst
wenn ich meinen Vater und meine Mutter und nun auch meinen Mann
verloren habe, erkenne ich das Volk an. Ich weiß, es gibt einen Gott,
ich weiß, sein Name lautet Elohim. Ich weiß von der Existenz unseres
Glaubens. Und Daniel gehört ihm an. Dies kann ich ihm nicht verwehren.
Ich darf es nicht.«
Der Arzt nickte. »Überlasse ihn mir für eine Weile.«
Er trug Daniel in ein anderes Zimmer. Die dunklen Augen meines
Sohnes blickten ein wenig furchtsam über die Schulter des Fremden, und
ich versuchte, ihm mit einem Lächeln Zuversicht einzuflößen. Dann trat
ich ans Fenster und griff Halt suchend nach dem Hebel. Ich griff so
fest zu, dass sich das Metall in meine Handfläche bohrte, doch ich
spürte kaum den Krampf in meinen Fingern. Ich lauschte angespannt ins
Nebenzimmer, vernahm schließlich den leisen Schrei und wusste, es war
geschehen: Nun war Daniel in jedem Sinne seines Vaters Sohn.
Der Rabbi brachte mir meinen Sohn wieder und drückte ihn mir
in die Arme. »Ich glaube, er wird sprechen«, sagte er schlicht.
»Ich danke Euch«, sagte ich.
Er brachte mich zur Tür. Es war nicht nötig, dass er mich zur
Vorsicht mahnte, und ebenso überflüssig, dass ich ihn meiner Diskretion
versicherte. Wir wussten beide, dass außerhalb seines Hauses ein Land
lag, in dem unseresgleichen gehasst und verachtet wurde –
obwohl wir Mitleid verdient hätten, war doch von unserem Glauben kaum
mehr übrig geblieben als ein paar halb erinnerte Gebete und Riten.
»Schalom«, sagte er sanft. »Gehe in Frieden.«
»Schalom«, erwiderte ich.
Die Stimmung bei Hofe war niedergedrückt.
Die Stadt, die einst für Maria marschiert war, brachte nun ihren Hass
gegen die Königin zum Ausdruck. Der Rauch der Ketzerverbrennungen vom
Smithfield-Platz vergiftete die Luft im Umkreis einer halben
Meile – doch in Wahrheit vergiftete er die Luft ganz Englands.
Und dennoch wollte die Königin nicht einlenken. Sie war der
festen Überzeugung, die Männer und Frauen, welche die heiligen
Sakramente der Kirche nicht annehmen wollten, seien dem Höllenfeuer
verfallen und irdische Folter sei nichts im Vergleich zu den Qualen,
die sie nach dem Tode erleiden würden.
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