Die Holzhammer-Methode
Natur das einzig Dauerhafte war, was sie besaßen. Und dass es galt, sie zu schützen. Sie lehrte, keine Butterbrotpapiere in die Landschaft zu werfen, den Froschlaich im Teich zu lassen und im Winter die Tiere im Wald nicht aufzuscheuchen, weil diese bei der Flucht durch den hohen Schnee zu viel Energie verbrauchten und dadurch leicht verhungern konnten. Und sie zeigte ihren Schülern auf Ausflügen zahlreiche Pflanzen. Doch während die meisten Kinder nicht zugehört hatten und stattdessen lieber rauften und spielten, hatte eines immer besonders gut aufgepasst.
Umso schlimmer war es gewesen, als die Frau vorzeitig in Pension geschickt wurde – nicht zuletzt auf Betreiben des großen Baulöwen. Mit ihrem Einsatz für den Naturschutz hatte sie nämlich seine Projekte gefährdet. Er hatte behauptet, sie bringe den Kindern nur unnützes Zeug bei und sei eine Hexe – warum sonst lebe sie allein in einem Häuschen am Waldrand und sammele zu jeder Jahreszeit Pflanzen und Kräuter. Letztlich hatte er so viele Eltern und Politiker gegen die Frau mobilisiert, dass der Schulrat sie unter fadenscheinigen Vorwänden entließ.
Doch kurze Zeit später hatte das einsame Kind die alte Lehrerin im Wald besucht, in dem alten morschen Häuschen am Schattenberg. Dort hingen Kräutersträuße von der Decke, Gläser mit lateinischen Aufschriften standen im Regal, und der Bücherschrank war gefüllt mit Werken über Kräuter und Pilze. Das neugierige Kind hatte gefragt und gefragt, und die Hexe hatte in aller Ruhe geantwortet und erklärt. Sie war der einzige Mensch, der das Kind ernst nahm. Immer wieder hatte das Kind danach die Hütte besucht und sich mit der Frau unterhalten. Und eines Tages hatte die Lehrerin ihm einen Ring geschenkt. Er hatte keinen Stein, sondern war aus Weißgold und Gelbgold raffiniert geflochten. Am Anfang war der Ring zu weit gewesen. Inzwischen passte er wie angegossen.
Jahrelang hatte das Kind die ehemalige Lehrerin regelmäßig besucht und von ihr gelernt. Beide waren älter geworden, und eines Tages hatte die alte Lehrerin einfach leblos neben dem Herd gelegen. Doch ihr Erbe sollte bewahrt werden. Alle Aufzeichnungen der Alten über Fundorte und Rezepte waren in einen Pappkoffer gewandert, der sich auf dem Speicher fand. Erst danach erfolgte der Anruf bei der Polizei.
Da es keine Angehörigen gab, war die Bestattung auf Gemeindekosten erfolgt. Niemand außer einer einzigen Person trauerte, niemand außer einer einzigen Person besuchte das Grab. Und an diesem Grab erfolgte dann auch der Schwur – ein Racheschwur.
Bei Christine in der Klinik war einiges los. Die Patienten hatten natürlich Wind von dem Todesfall bekommen, und nun versuchte jeder, irgendwelche exklusiven Informationen aus Ärzten oder Therapeuten herauszuholen. Die Klinikleitung hatte gleich morgens die allgemeine Devise für den Umgang mit jeglichen Anfragen vorgegeben: Beruhigen, beschwichtigen, ablenken. Ein tragischer Unfall, sollte es heißen, wir sind sehr betroffen, aber das hat nichts mit Ihrer Krankheit und Ihrem Aufenthalt in der Klinik zu tun. Die Patienten entwickelten nun diverse Strategien, um ihren Ansprechpartnern doch noch etwas zu entlocken. Die Schüchternen schlichen nur ständig um die Stationskanzel herum. Die Forschesten sprachen den zuständigen Stationsarzt direkt an. Doch die Mehrheit versuchte, hintenrum an Informationen zu kommen. Zum Beispiel, indem man sich in den Therapiestunden beunruhigt zeigte.
Für Christine war es nicht leicht zu verbergen, wie beunruhigt sie selbst war – wie sehr der Tod von Mathilde Zechner ihr an die Nieren ging. Sie war froh, als sie die Mittagspause erreicht hatte. In der Personalkantine traf sie die ehemalige Stationsärztin der Toten, Dr. Martina Franke, die jüngste Reha-Fachärztin in der Klinik. Christine fragte, was sie von der Sache hielt.
«Die Frau war fit», antwortete Dr. Franke. «Bis auf ihren psychischen Erschöpfungszustand, aber den kennst du ja besser als ich. Sie hatte ein gesundes Herz, den Allgemeinzustand einer Vierzigjährigen. Es kann also nur ein Unfall gewesen sein.»
«Ja», sagte Christine. «Oder etwas, das wir übersehen haben?»
«Blödsinn, was sollte das sein? Ebola vielleicht?» Die junge Ärztin war pragmatisch veranlagt, Spekulationen waren nicht ihre Sache.
«Na ja, kann es nicht wirklich ein seltener Virus gewesen sein? Oder eine Allergie?» Im Grunde ihres Herzens wusste Christine, dass das nicht stimmte. Aber sie wollte die
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