Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
Augen fast aus dem Kopf fallen bei dem, was es hier zu hören und zu sehen gab.
Als wir am Gepäckkarussell ankamen, setzte Boggs mein Handgepäck ab und drehte sich endlich zu mir um.
»Zeigen Sie mir Ihre Abschnitte«, befahl er.
»Wie bitte?«
»Ihr Gepäck.Wie viele Stücke?«
»Oh, drei«, sagte ich. »Da ist eins!«, rief ich und zeigte darauf. Er packte es und hob es mit solcher
Leichtigkeit hoch, dass ich schon glaubte, jemand hätte den Koffer geleert und meine Kleidung gestohlen.
Nachdem wir auch die anderen herausgefischt hatten, klemmte er sie sich unter die Arme oder nahm sie in die Hand und nickte zu meinem Handgepäck hin.
»Das nehmen Sie«, befahl er.
Wieder musste ich fast laufen, um mit ihm Schritt zu halten. Er führte mich den Gehweg entlang zu einem älter aussehenden, aber gut gepflegten Rolls-Royce. Bevor er den Kofferraum öffnete, riss er die Hintertür auf, und ich spähte hinein.
Meine Großtante Leonora saß in der gegenüberliegenden Ecke. Sie hatte ein viel schmaleres Gesicht als Großmutter Hudson, aber ich sah die Ähnlichkeit bei Augen und Nase. Ihr dunkelbraunes Haar war mit einem Schwung über die linke Seite der Stirn frisiert. Jede Strähne wirkte so, als wäre sie für alle Ewigkeit dort festgekleistert. Sie trug ein graues Tweedkostüm und hübsche goldene Ohrringe mit winzigen Rubinen. Ich sah, dass sie viel mehr Make-up benutzte als Großmutter Hudson, besonders Rouge auf den Wangen.
»Willkommen in London, meine Liebe«, sagte sie. »Steigen Sie schnell ein, und während Boggs Ihr Gepäck im Kofferraum verstaut, erzählen Sie mir, wie es meiner Schwester geht.«
»Danke«, sagte ich und schlüpfte ins Auto. Boggs schloss die Tür und öffnete den Kofferraum.
Sobald ich saß, stieg mir der Geruch eines stechend
süßen Parfüms in die Nase. Ich erstickte fast an den überwältigenden Duftwellen. Im Halbdunkel sah ich, dass meine Tante kleine braune Punkte auf der rechten Seite des Kinns hatte.
»Mrs Hudson bat mich, Ihnen zu sagen, wie Leid es ihr tut, dass sie nicht mitkommen konnte. Ihre Ärzte wollen den Schrittmacher noch ein wenig länger kontrollieren.«
»Sie muss außer sich sein vor Wut. Ich kenne doch meine Schwester Frances. Man verbietet ihr nicht, irgendwo hinzugehen«, sagte Leonora. »Wie war die Reise?«
»Danke, gut.«
»Zum ersten Mal im Ausland, nicht wahr?«, fragte sie.
»Ja, Ma’am.«
»Und ich wette, Sie sind schon sehr aufgeregt, dass Sie die Schauspielschule besuchen können. Was für eine wunderbare Möglichkeit. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass meine Schwester eines so außerordentlich selbstlosen Aktes fähig ist. Ich weiß, dass sie sich bei dieser und jener Wohltätigkeitsorganisation engagiert, aber so spät im Leben noch der Vormund eines jungen Menschen zu werden ist schon eine große Verantwortung.«
Sie legte den Kopf ein wenig schief, um mich anzuschauen.
»Ich frage mich, woher sie so plötzlich diesen neuen mütterlichen Impuls bekommen hat? Was haben Sie getan, um meine Schwester so zu verzaubern?«,
fragte sie. In ihrer Stimme klang ein seltsamer Ton des Misstrauens an, während sie die Augen bei der Frage weit aufriss.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Mrs Hudson war sehr freundlich. So einfach ist das.«
»Wirklich? Wie interessant«, fuhr sie fort und schaute mich noch immer forschend an. »Wie geht es meinen Nichten?«, fuhr sie fort.
»Ich denke gut. Ich sehe sie nicht besonders oft«, fügte ich rasch hinzu und merkte, dass meine Stimme zitterte. Ich hatte nicht erwartet, so schnell ins Kreuzverhör genommen zu werden.
»Victoria hat immer noch keine Liebesbeziehung?«
»Das weiß ich nicht, Ma’am.«
»Sie ist doch oft genug da, oder?«
»Ja, aber dafür nicht oft genug«, sagte ich.
»Hmm.« Sie nickte langsam und lächelte dann. »Ich wette, Sie haben einen immensen Hunger. Wir können auf dem Weg anhalten und Ihnen etwas Warmes zu essen besorgen, wenn Sie möchten. Ich kenne ein nettes neues französisches Restaurant, das gar nicht weit ist. Mögen Sie französische Küche, meine Liebe?«
»Ich habe sie noch nicht oft gegessen«, sagte ich.
»Ach ja?«
»Ich bin wirklich nicht besonders hungrig«, wehrte ich ab. »Ich habe im Flugzeug genug gegessen.«
Ich wollte höflich sein und sie anschauen, wenn sie sprach, aber ich wollte auch gerne aus dem Fenster schauen. Wo waren all die Orte, von denen ich in
meinen Geschichtsbüchern gelesen hatte? Der Tower, Big Ben, das
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