Die Hudson Saga 03 - Dunkle Träume
geht’s wieder los, dachte ich.
»Ich habe einen Stiefbruder und eine Halbschwester.«
Er nickte wie jemand, der auf die Pointe eines Witzes wartet.
»Ich lebe nicht bei meiner Mutter, sondern ganz alleine in diesem großen Haus. Jetzt mit Mrs Bogart. Sie ist gerade erst engagiert worden. Allerdings
ist sie keine besonders gute Gesellschaft«, fügte ich hinzu.
»Tatsächlich?« Er drehte sich um und schaute auf den See.
»Ich dachte, Sie müssten alles über mich wissen, bevor Sie anfangen, mit mir zu arbeiten«, sagte ich.
»Also, ich weiß, wie Sie verletzt wurden.Tut mir Leid. Wissen Sie«, sagte er und schaute wieder mich an, »ich habe mit Kindern auch schon interessante Therapieerfolge mit Reiten erzielt. Vielleicht kehren Sie eines Tages in den Sattel zurück.«
»Das bezweifle ich.«
»Sie unterschätzen sich, Rain«, sagte er, die – Augen zusammengekniffen, mit eindringlichem Blick. »Flüchten Sie sich nicht in eine Welt der Fantasie, aber bevor Sie zu irgendwelchen eisenharten Schlüssen über Ihre Zukunft gelangen, darüber, was Sie tun werden und was nicht, geben Sie der Erholung und Rehabilitation eine Chance. Ende der Lektion«, sagte er rasch und tat so, als verschlösse er seinen Mund.
Ich schaute zu ihm hoch. Die Mittagssonne schien auf uns herab, ihre Strahlen schlüpften zwischen zwei trägen Schäfchenwolken hindurch und erweckten den Anschein, als stünden wir beide im Scheinwerferlicht. Meine Nase war erfüllt vom frischen Duft wilder Blumen, der sich mischte mit den Gerüchen, die vom Wasser aufstiegen: die Feuchtigkeit des hölzernen Bootsstegs, das intensive Aroma feuchter Erde.
Austins Gesicht strahlte auch ohne Sonnenschein. Bei hellem Tageslicht funkelten in seinen türkis Augen einige grüne Punkte. Er wirkte gesund und stark, jung und lebenssprühend, alles, was ich gewesen war, und wovon ich träumte, es wieder zu sein. Immer wenn er mich anschaute, hatte er ein Lächeln auf den Lippen, ein freundliches, glückliches Lachen, das interessanten Entdeckungen folgte.
Wie konnte mich irgendjemand anschauen und an irgendetwas anderes denken als Mitleid und Kummer, fragte ich mich. Welches Geheimnis besaß er? Welchen Zaubertrank genoss er jeden Tag, der ihm die Kraft gab, Schönheit und Güte, Hoffnung und Zuversicht in einer Welt zu sehen, die ich nur als finster und bedrohlich wahrnahm? Lag es nur an seinem Glück mit Gesundheit und körperlicher Fitness?
»Sind Sie verheiratet oder verlobt oder so was?«, fragte ich ihn, weil ich annahm, dieses Strahlen in seinen Augen, das Leuchten seines Gesichts hätte etwas mit Verliebtheit zu tun. Jemand dort draußen erfüllte sein Herz mit großer Freude.
Tagelanges Auswendiglernen von Romeo und Julia für den Unterricht in London hatte das Stück auf mein Konto süßer Gedanken verbucht.
Einige der Zeilen kamen mir jetzt sofort in den Sinn: »Lieb’ ist ein Rauch, den Seufzerdämpf erzeugten, Geschürt, ein Feuer, von dem die Augen leuchten …«
»Im Augenblick bin ich gar nichts.Vor nicht allzu langer Zeit dachte ich, ich sei verliebt und jemand sei in mich verliebt, aber als ich ihr den Rücken kehrte, weil ich so beschäftigt war mit meinen Patienten, ergriff einer meiner Kumpels die günstige Gelegenheit, und die Liebe, die ich für so stark hielt, ging in die Brüche.«
Er trat auf den kleinen Bootssteg, hob die Hände und rief: »Sie ist dahin! – Ich bin getäuscht! – Mein Trost sei bittrer Hass.«
Dann lachte er. Mir stand der Mund offen.
»Das ist aus Othello «, erklärte ich. Er nickte.
»Das schien damals zu passen, deshalb habe ich es mir ausgeliehen. Das ist eine Leidenschaft von mir. Ich habe haufenweise Bänder von Theaterstücken und Rezitationen; die höre ich mir an, wenn ich mir das Abendessen zubereite oder mich auch einfach entspanne und mit geschlossenen Augen auf dem Sofa liege.« Er stieg wieder herunter und sagte laut flüsternd: »Ich bin ein verhinderter Schauspieler.«
Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen.
»Hat meine Tante Ihnen von mir erzählt?«
»Ich habe Ihre Tante nie kennen gelernt. Mein Onkel hat mir den Auftrag erteilt. Ich habe Ihren Krankenbericht gelesen. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich weiß, wie Sie verletzt wurden, aber ich habe keine Biographie von Ihnen bekommen, nein.Warum?«
»Den größten Teil des Jahres habe ich in London
verbracht und an einer Schule für darstellende Künste studiert. Ich wollte Schauspielerin werden«, sagte ich.
»Sie machen Witze!
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