Die Hudson Saga 04 - Im Schein des Mondes
ersten Mal hier«, fügte sie hinzu.
»Ich weiß. Ich komme jetzt schon seit vier Jahren und habe dich noch nie gesehen.«
»Vier Jahre! Du musst ja mittlerweile so gut sein wie Kenny G.«
»Nein«, widersprach ich lachend. »Wohl kaum.«
Sie zuckte die Achseln.
»Es war die Idee meiner Mutter, mich hierher zu schicken. Sie möchte, dass ich mehr Kultur in mich aufnehme«, erklärte sie, den Handrücken auf die Stirn gelegt, mit übertrieben korrektem Ton. »Seit ihrer Scheidung ist sie sehr besorgt darum, dass niemand die Gelegenheit erhält zu behaupten, sie erziehe mich nicht vernünftig.«
»Ach«, sagte ich, weil ich gerade erfahren hatte, dass ihre Eltern geschieden waren. »Das tut mir Leid.«
»Schon gut. Es war einer dieser zivilisierten Scheidungen. Mein Vater kommt gelegentlich vorbei und gibt ihr Ratschläge wegen des Cafés. Er arbeitet für einen Lebensmittelgroßhändler, und das Café meiner Mutter ist einer seiner größten Kunden.«
»Warum haben sie sich scheiden lassen?«
»Aus keinem bestimmten Grund«, erwiderte sie achselzuckend. »Eines Tages entschieden sie, dass sie einen großen Fehler gemacht hatten, als sie gesagt hatten ›bis dass der Tod uns scheidet‹.Wir saßen alle im Wohnzimmer und unterhielten uns vernünftig und kamen zu dem Schluss, dass, es bis zum Tod dabei zu belassen, bedeutet, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren.«
»Wir?«
»Meine Eltern haben mich immer in ihre Entscheidungen einbezogen. Sie glauben, dass eine Familie das beste Beispiel für eine Demokratie sein sollte, besonders
da jede Entscheidung mich genauso betrifft wie sie. Das war schon so, seit ich etwa drei Jahre alt war.«
»Drei? Wie konntest du ihnen mit drei Jahren dabei helfen, irgendetwas zu entscheiden?«
Sie zuckte die Achseln.
»Sie glaubten vermutlich an Instinkte und schenkten meinem Stöhnen und Lächeln entsprechende Beachtung.« Sie schloss ihren Koffer auf. Alles war einfach hineingeworfen worden ohne besonderes System. Ihre Toilettenartikel lagen direkt neben ihrer Unterwäsche, den Blusen, Röcken und Socken, Schuhen und Turnschuhen. Kein Kleidungsstück war gefaltet, aber ihre Jeans hatte sie ordentlich eingepackt.
»Ist dir klar, dass du nur einen Ohrring trägst?«, fragte ich.
Sie schlug die Hände auf die Ohren und zog eine schmerzliche Grimasse.
»Oh nein. Er muss heruntergefallen sein, als ich zum Gepäck ging. Ich bin mir sicher, dass ich ihn im Flugzeug noch hatte. Na gut, wie meine Mutter immer sagt, wenn sie einen Fehler macht, vielleicht kreiere ich eine neue Mode – nur einen Ohrring.« Um deutlich zu machen, was sie meinte, nahm sie den verbliebenen Ohrring nicht ab.
Ich sah zu, wie sie auspackte und ihre Sachen genauso schlampig in die Schubladen feuerte, wie sie sie in den Koffer gepackt hatte.
»Wie alt bist du?«, fragte ich sie.
»Fünfzehn. Und du?«
»Gerade sechzehn.«
»Wie sind die Jungs hier?«, hakte sie nach, ohne mich anzuschauen.
»Die meisten sind sehr nett«, sagte ich.
»Wie nett?« Sie drehte sich um und schaute mich an. Ich war mir nicht sicher, was sie meinte. »Sind sie zu nett? Ich hasse Jungs, die zu nett sind. Bei denen musst du dich mehr anstrengen, um etwas anzufangen.«
»Etwas anfangen?«
»Eine Romanze oder eine heiße Beziehung. Bist du nie mit jemandem hier gegangen?«
»Nein«, sagte ich. »Zum Tanzen, aber es hat sich nie etwas Ernstes daraus entwickelt.«
»Junge, Junge«, meinte sie kopfschüttelnd und beendete ihr Auspacken. »Genau wie ich befürchtet hatte.«
»Was?«, fragte ich.
Sie drehte sich um und hob die Arme.
»Kultur ist kein Spaß.«
Sarah Burnside war überhaupt nicht schüchtern, fand ich schnell heraus. Wenn ich sie Leuten vorstellte, begann sie mit ihnen zu reden, als würde sie sie schon seit Jahren kennen. Sie hatte auch nicht die geringsten Hemmungen, ihre Meinung über irgendetwas mitzuteilen, zum Beispiel über die Kleidung von Leuten. Für manche Dinge hatte sie auch ihre eigenen Worte, besonders für Dinge, die unerfreulich waren oder sie ärgerten. Wenn es sich um ein kleines Ärgernis handelte, nannte sie es igittsch; wenn es absolut grauenhaft war,
gab sie ihm die Bezeichnung wigittsch. Unser Essen war nur igittsch, aber viele unserer Regeln fielen in die Kategorie wigittsch.
»Wir sollten ein Protestkomitee gründen und ein Gespräch mit Herrn Direktor Professor Greenleaf verlangen«, verkündete sie. Als Courtney Bryer ihr sagte, dass wir nicht lange genug hier wären, als
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