Die Hudson Saga 04 - Im Schein des Mondes
ich sie immer in meine Brieftasche steckte. Ich gab sie ihr. Sie drehte sie in den Händen hin und her, als wollte sie sichergehen, dass es keine Fälschung war.
»Brauchen Sie auch Geld?«, fragte Harley sie.
»Nein, das ist in Ordnung«, sagte sie. »Ich komme sofort wieder.« Sie ging hinaus.
»Ich möchte mir das morgen wieder anschauen«, sagte Dr. Richards.
Harley und ich dankten ihm. Als Anna zurückkam, reichte sie mir ein Formular, das ich unterschreiben musste, und gab mir darauf meine Karte zurück.
»Benutzen Sie die Krücke«, riet Dr. Richards, als wir hinausgingen. Harley hielt mich fest. Wir gingen zum Motorrad zurück. Harley legte die Krücke über die Lenkstange und bat mich, das Ende unter den Arm zu klemmen.
»Ich fahre ganz langsam, und es ist auch nicht weit«, sagte er.
»Wie ich aussehe. Deinen Vater so zum ersten Mal zu begrüßen«, stöhnte ich, erfüllt von tausend Ängsten –
jetzt, da wir nur wenige Augenblicke von ihm entfernt waren. »Was meinte wohl die Frau des Arztes damit, als sie sagte, die Frau benutze Magie?«, fragte ich.
»Wer weiß, aber ein wenig Zauberei könnten wir jetzt schon gebrauchen«, murmelte Harley.
Wie konnte ich dem widersprechen?
KAPITEL 11
Von Angesicht zu Angesicht
A ls wir in die Straße einbogen, in der sein leiblicher Vater wohnte, spürte ich, wie nervös Harley war. Sein Körper erstarrte zu Stein.Wir hielten vor einem alt wirkenden Haus, blieben dort erst einmal einfach stehen und starrten es an.
Das Haus lag am Ende der Straße in einer Sackgasse, an der keine weiteren Häuser standen. Ein hoher Maschendrahtzaun markierte auf beiden Seiten die Grundstücksgrenze. Der Zaun sah nicht aus, als umgrenzte er tausend Quadratmeter, ja nicht einmal ein paar hundert. Es war eine Art Zaun, wie man sie in Industriegebieten findet, nicht in Wohngebieten.
Der Rasen musste dringend gemäht werden. Überall wucherte Löwenzahn und Unkraut. Im Garten an der Vorderseite des Hauses war zwar auch einiges zu tun, aber er wirkte nicht ganz so ungepflegt. Zu beiden Seiten der vorderen Veranda stand eine Reihe Rhododendronbüsche. Ein schmaler Weg aus Feldsteinen war von kniehohen Büschen gesäumt, die aber ungleichmäßig geschnitten waren. Rechts stand eine prächtige weit verzweigte Eiche, links standen die Überreste einer weiteren
Eiche, die aussah, als wäre sie vor Jahren vom Blitz getroffen worden, die Spitze war abgeschnitten, die Zweige waren alle abgestorben und verkrüppelt. Die Borke wirkte kränklich grau. Warum irgendjemand sie dort stehen ließ, war ein Rätsel.Vielleicht diente sie als eine Erinnerung und Warnung für die Kräfte der Natur.
Früher musste dieses einmalige Haus eine dunkelbraune Holzverkleidung mit schneeweißen akkuraten Verandageländern und Schlagläden gehabt haben. Es sah aus, als wäre es seit der Erbauung nicht mehr gestrichen worden. Alles war angeschlagen und verblichen, eines der Fenster im ersten Stock war zerbrochen und mit einer Sperrholzplatte abgedeckt.
»Hatte dein Vater dir nicht gesagt, er sei Maler?«, fragte ich.
»Ja«, bestätigte Harley.
»Das hier ist wohl so ein Fall eines Schuhmachers ohne Schuhe.«
»Vermutlich.«
Er holte tief Luft und fuhr die Auffahrt hinauf. Es gab keine Garage. Wir sahen einen Lieferwagen, der hinten geparkt war und vermutlich seinem Vater gehörte. Es war ein ramponierter Lieferwagen, dessen hintere Stoßstange mit einer Schnur und etwas Draht angebunden war, damit sie nicht abfiel. Ich bemerkte eine Hundehütte, sah aber keinerlei Anzeichen von einem Hund. Zur Linken befand sich ein Gemüsegarten mit einigen selbst gebastelten Vogelscheuchen aus Dosen, Kanistern und verrosteten Metallstreifen. Ich erkannte Tomatenund
Zucchinipflanzen. Es gab auch Maiskolben und Erbsenstauden, insgesamt ein ziemlich ambitionierter heimischer Gemüseanbau.
Das Haus selbst war dunkel. An allen Fenstern waren die Vorhänge geschlossen. Als Harley den Motor abstellte, saßen wir dort, lauschten und schauten zur Haustür, über der ein Windspiel hing. Sein musikalisches Klimpern und das gelegentliche entfernte Hupen eines Autos waren alles, was wir hörten.
»Vielleicht ist niemand zu Hause«, murmelte Harley.
»Er wusste doch, dass du heute kommst, stimmt’s?«
Harley nickte, rührte sich aber immer noch nicht.
»Was sollen wir tun?«, fragte ich.
»Wir sollten einfach hinaufgehen, klopfen und abwarten«, schlug er vor. Er stieg ab und half mir. »Vorsichtig«, ermahnte er mich, als
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