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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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sich des Gedankens nicht erwehren, daß Petes aufdringlicher Geist seine Ehefrau kaum wiedererkannt hätte. Diese neue, elegant und gepflegt gekleidete Frau, deren Haar professionell gestylt und gut frisiert war, die ihre Malutensilien in einer Mappe mit sich trug und deren Augen vor Begeisterung funkelten, hätte jedes Gespenst vor ein gewaltiges Problem gestellt.
    Leslie reichte Evelyn ein Exemplar des Bannrituals, das sie mit Claire im Atelier durchgeführt hatte. »Vielleicht versuchen Sie es einmal damit.«
    Evelyn überflog die Zeilen. »Ach, ich weiß nicht, Dr. Barnes. Ich würde mir schrecklich dumm vorkommen. Vor allem, weil Pete mich jetzt nicht mehr ärgert.«
    »Wie Sie möchten«, meinte Leslie und streckte Mrs. Sadler die Hand entgegen. »Sollen wir einen neuen Termin vereinbaren?«
    »Nun ja, darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Ich verbringe jetzt drei Tage die Woche an der Kunstakademie und in einem Krankenhaus. Eigentlich habe ich gar keine Zeit mehr …«
    Als Leslie Mrs. Sadler nach draußen ließ, überlegte sie, daß dies zumindest ein Erfolg war, den sie ihren neuen Methoden zugute halten konnte.
    Simons Wagen hielt vor dem Tor, und er sprang heraus, trat auf Leslie zu und küßte sie.
    »Ich wußte gar nicht, daß wir etwas vorhaben, Liebling.«
    »Haben wir auch nicht«, entgegnete er. »Heute abend bin ich dir untreu und führe Emily aus. Das macht dir doch nichts aus, Schatz?«
    »Natürlich nicht. Was habt ihr denn …?«
    In diesem Moment kam Emily die Treppe herunter. Sie wirkte frisch und strahlend in einem saphirblauen Body und einem dazu passenden Rock.
    »Kommt ihr sehr spät zurück?« fragte Leslie.
    »Ich glaube nicht. Wahrscheinlich liefere ich Emily gegen zehn wieder ab«, meinte Simon, küßte Leslie noch einmal und hielt dem Mädchen die Wagentür auf.
    Leslie ging ins Haus und schaltete das Radio ein. Eine der beiden Stationen, die klassische Musik sendeten, übertrug eine mehrere Jahre alte Aufnahme eines Live-Konzerts aus München. Der Ansager nannte das Orchester und den Dirigenten – Lewis Heysermann –, und dann vernahm Leslie mit einem Mal den Namen des Gastsolisten: Simon Anstey. Sie hörte die gelassene, neutrale Stimme, die mit der Andeutung eines britischen Akzents die deutsche Ansage übersetzte, die Preise aufzählte, die Simon gewonnen hatte, und die weltberühmten Orchester nannte, mit denen er gespielt hatte. Dann hörte sie, wie Applaus aufbrandete, noch ehe der Dirigent das Konzert eröffnet hatte, und wußte, daß der Beifall ihrem Liebhaber galt. Und dann kamen die acht Akkorde, die pianissimo begannen und rasch zu einem donnernden fortissimo aufstiegen – die ersten Takte des Klavierkonzerts von Rachmaninow.
    Oft sprach Simon davon, was sie unternehmen würden, wenn sie verheiratet wären, aber er hatte sie nicht weiter gedrängt, rasch einen Termin für die Hochzeit festzulegen. Leslie ihrerseits nahm keine neuen Patienten mehr an, hatte mit einem oder zwei sogar über eine mögliche Beendigung ihrer Therapie gesprochen. Im Gegensatz zu ihren freudianisch orientierten Kollegen neigte sie zu der Ansicht, daß eine jahrelange Behandlung durch einen Therapeuten allenfalls eine zusätzliche Abhängigkeit zur Folge habe, wenn die Behandlung innerhalb von ein paar Monaten keine bedeutsamen Veränderungen im Leben eines Patienten bewirkte oder zumindest einleitete. Wenn sie erst verheiratet war, wollte Leslie ihre Praxis allerdings wieder eröffnen. Falls Simon tatsächlich viel unterwegs war, mußte sie sich beschäftigen, wollte sie nicht ständig zu Hause sitzen und auf ihn warten. Aber die ersten Monate ihrer Ehe sollten nur Simon allein gehören.
    Als das Concerto vorüber war, hörte sie sich die Zugaben an; einige Präludien von Chopin. Eines davon hatte sie Simon noch vor ein paar Tagen spielen gehört. Sie war sich bewußt, daß sie nicht die Erfahrung besaß, um zwischen seinem damaligen und dem heutigen Spiel zu unterscheiden. Aber Simon kannte den Unterschied, und dieses Wissen machte ihm schrecklich zu schaffen.
    Um halb elf hörte sie Emilys Schritte in der Diele und eilte zur Tür. Eine langstielige blutrote Rose in der Hand, stand das Mädchen mit traumverlorenem Blick da.
    »Wo ist Simon?« fragte Leslie.
    »Er wollte nicht mehr hereinkommen«, antwortete Emily schläfrig und roch an der Blume. »Er ruft dich morgen an.«
    »Habt ihr euch gut amüsiert? Wo seid ihr gewesen?«
    »Simon hat mich zu einer Logensitzung mitgenommen«,

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