Die Hüter der Schatten
Poltergeists sein Geburtstrauma ausgelebt.
Geburtstrauma, also wirklich! Der alte freudianische Quatsch! Leslie las weiter. Der Poltergeist von Baltimore war ein kreativer und begabter Junge gewesen. Dem Psychologen war es gelungen, den Poltergeist auszutreiben, indem er der Großmutter des Jungen riet, dessen schriftstellerische Neigungen zu fördern und ihn seine Arbeiten in einer Literaturzeitschrift für Amateur-Autoren veröffentlichen zu lassen. Auf diese Weise hatte er ein Ventil für das blockierte kreative Potential des Jungen geschaffen, das wahrscheinlich für das Auftreten des Poltergeist-Phänomens verantwortlich gewesen war.
Leider traf das alles weder auf Eileen noch auf Leslie zu. Eileens Vater förderte die Kreativität des Mädchens vielleicht sogar zu stark, so daß sie sich nichts sehnlicher wünschte als die Freiheit, ein ganz normaler Teenager zu sein. Was Leslie selbst anging, so fühlte sie sich weder auf schöpferischem noch auf sexuellem Gebiet frustriert: Sie übte einen qualifizierten Beruf aus, den sie liebte, verdiente genug Geld, hatte einen Freund und sogar eine jüngere Schwester, an der sie möglicherweise aufkommende Anflüge von Mutterinstinkt abreagieren konnte.
Fodor hätte dafür natürlich eine Diagnose in seinem antiquierten freudianischen Jargon bereit gehabt: Penisneid, das Bedürfnis der Frau nach sexueller Unterwerfung, Ablehnung ihrer weiblichen Rolle. Na schön, die Frau im Laden hatte recht. ›Psychoanalytisches Gewäsch‹ war doch die richtige Bezeichnung. Aber sollte sie, Leslie, etwa all ihre Bedürfnisse verleugnen, ihrem bewußten Selbst Gewalt antun und Joel heiraten, nur um ihr aufgewühltes Unterbewußtsein zu beruhigen?
Is’ nich’, sagte sie sich – einer von Emilys Lieblingsausdrücken. Sie steckte die beiden Bücher in ihre Aktentasche, stieg ins Auto und fuhr zu der Kreuzung, wo der Immobilienmakler sie erwartete.
Eine kleine Straße wand sich hügelaufwärts um einen Park herum, der Leslie noch nie aufgefallen war, und verzweigte sich bald zu einem Labyrinth aus Seitenstraßen, Plätzen und winzigen Sackgassen. Der Makler hielt vor einem kleinen, mit braunen Schindeln verkleideten Haus und winkte Leslie, ebenfalls zu stoppen. Die Haustür lag ein Stück zurückgesetzt zwischen zwei symmetrischen Erkerfenstern. Leslie stieg aus und ging die mit Platten ausgelegte Einfahrt hinauf.
Die Tür, die Treppe und die hell getünchten Zierleisten wirkten so frisch, als wären sie gestern erst gestrichen worden, obwohl das Haus noch aus der Zeit vor dem großen Erdbeben in San Francisco stammen mußte. Drinnen fiel durch einen fächerförmigen Bogen Licht in eine elfenbeinfarben gehaltene Diele, und rechts und links führten zwei breite weiße Türen in jeweils zwei durch Glastüren abgeteilte Räume. Leslie betrat die Zimmer auf der rechten Seite. Sofort konnte sie sich Emilys kleinen Flügel und die noch immer eingelagerte Konzertharfe in diesen Räumlichkeiten vorstellen. Hinter dem Fenster war eine grünbelaubte Wildnis zu erkennen. Auf der anderen Seite der Diele befanden sich zwei identische Räume, die fast die gesamte Länge des Hauses einnahmen.
»Miss Margrave hat diese Zimmer schalldicht isolieren lassen«, erklärte der Makler. »Ich dachte gleich daran, daß Sie hier Ihre kleine Praxis einrichten könnten, Dr. Barnes.«
In der Mitte des größeren, zur Straße liegenden Zimmers hing eine farbenfrohe Tiffany-Lampe von der Decke. Hinter der Glaswand befand sich ein kleinerer Raum mit einem breiten Fenster an der Rückfront. Die altmodische, gold und weiß gestreifte Tapete war zu neu, um zur ursprünglichen Einrichtung des Hauses zu gehören, strahlte jedoch die konservative Eleganz einer versunkenen Epoche aus. Leslie fragte sich, ob der Raum dadurch wohl zu steif und förmlich auf ihre seelisch aufgewühlten Patienten wirken konnte.
»Eine schöne Aussicht hat man von hier«, bemerkte der Makler. Leslie trat an das rückwärtige Fenster. Tief unter ihr lag die Stadt, und in blauen Fernen breitete sich das Panorama des Golden Gate aus, wo die schmale, anmutig geschwungene Kontur der Brücke sich zwischen Meer und Himmel spannte. Der Raum hinter Leslie strahlte Ruhe und Frieden aus. Sie fühlte sich eins mit der Natur und der Stadt, dem Himmel und dem Meer. Allein dieser Blick würde den Bekümmerten Frieden schenken.
Ihrem Gesprächspartner gegenüber gab Leslie sich allerdings weitaus zurückhaltender. Womöglich kam er auf die Idee, für
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