Die Hüter der Schatten
langer Zeit gelernt, die richtige Umgebung zu schaffen und mein Leben so zu strukturieren, daß alles um mich herum meinen ausgebildeten Willen unterstützt. Du hast sicher bemerkt, daß ich zum Abendessen keinen Cocktail getrunken habe.«
Leslie nickte. »Stimmt.«
»Ich trinke niemals starken Alkohol. Wein ist etwas ganz anderes. Er stellt die reine Essenz der Früchte der Erde dar, und seine Aura reinigt und macht den Menschen empfänglicher. Aus demselben Grund bin ich Vegetarier – nicht aus sentimentaler Tierliebe oder einem übertriebenen moralischen Anspruch, sondern weil rotes Fleisch die Sinne abstumpft. Und als Musiker möchte ich den kleinsten Vibrationen des Universums gegenüber offen bleiben.« Demonstrativ bewegte er seine behandschuhte Hand. »Und im Moment hat mein Wille ein bestimmtes Ziel. Es gibt nichts, was der ausgebildete Geist nicht erreichen kann. Selbst die profane Verhaltensforschung erkennt das allmählich mit Hilfe ihrer primitiven Biofeedback-Apparate und dergleichen. Die Medizin hat für mich alles getan, was sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten tun konnte«, fügte er hinzu. »Den Rest werde ich durch meinen Geist – und meinen Willen – vollbringen.«
»Das hoffe ich für dich«, sagte Leslie leise. Sie konnte sich kaum vorstellen, was es für Simon bedeuten mußte, daß seine Bühnenkarriere auf diese Weise ein gewaltsames Ende gefunden hatte. Sie hatte von Fällen gehört, da der Überlebenswille den Ausschlag zwischen Leben und Tod gegeben hatte. Wer war sie, zu behaupten, der Wille könne bei der Heilung einer schwer verletzten Hand nicht eine ähnliche Rolle spielen?
»Aber im Moment habe ich anderes im Sinn«, flüsterte Simon, beugte sich herab, um Leslies bloßen Nacken zu küssen, und schlang den Arm um ihre Taille. »Falls du es auch willst …«
Sie nickte stumm.
»Nimm den Wein mit«, flüsterte Simon. »Wir trinken ihn zusammen … nachher.« Er führte sie ins Schlafzimmer. Es war kahl und ebenso sparsam möbliert wie der Wohnraum – mit einem Unterschied. In einer Ecke in Fensternähe stand ein Tischchen, das zu einem kleinen Altar gestaltet war. Ein einzelnes rotes Windlicht stand darauf und verbreitete seinen sanften Schein.
»Möchtest du zuerst duschen? An der Tür hängt ein Bademantel, den du anziehen kannst«, erklärte Simon. Er zog Leslie an sich, küßte sie leidenschaftlich und gab sie dann frei. »Wir haben es nicht eilig. Und Sex sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen, Leslie. Die Vereinigung von Mann und Frau, selbst wenn sie flüchtig, beiläufig oder sogar im Rahmen einer finanziellen Transaktion verläuft, ist … wie soll ich es ausdrücken? Du wohnst in Alisons Haus, deshalb weiß ich, daß du mich auf einer gewissen Ebene verstehen wirst, selbst wenn du nicht bewußt verstehst, was ich meine … Die sexuelle Vereinigung erzeugt einen Wirbel mentaler Energie und schafft ein ganz besonderes Band. Viele Menschen halten solche Vorstellungen für Unsinn, daher wähle ich meine Partnerinnen so sorgfältig aus wie ein Geiger sein Instrument. Oder spottest du jetzt auch über mich, Leslie?« In seinem Auge loderte von neuem dieses grelle Licht auf. »Wenn dir das alles seltsam vorkommt … oder verrückt … dann laß uns noch ein Glas Wein zusammen trinken, und ich bringe dich nach Hause.«
Doch Leslie hatte das Gefühl, als hätte Simon etwas in Worte gefaßt, das ihr schon seit langem im Kopf herumging. Ein weiterer Gedanke, den sie ihm allerdings nicht anvertraute, schob sich plötzlich in ihr Bewußtsein: Um die Verbindung zu Joel zu lösen, die ihr jetzt nicht mehr willkommen war, mußte sie ein neues Band zu einem anderen Mann schmieden …
Leslie trat ins Badezimmer. Als Simon erwähnt hatte, daß dort ein Bademantel sei, den sie benutzen könne, hatte sie einen Augenblick gezweifelt. Gehörte Simon etwa zu diesen von sich eingenommenen Hedonisten, die solche Dinge für die Frauen, die ihnen über den Weg liefen, stets parat hatten? Aber der Hausmantel gehörte offensichtlich ihm selbst – ein japanischer Kimono in einem Männermuster, der für eine Frau viel zu groß gewesen wäre.
Während Leslie unter dem prasselnden Wasser stand, gingen ihr seltsame Gedanken durch den Kopf, und sie hatte das eigenartige Gefühl, sich Joels Berührungen vom Körper und aus der Erinnerung zu waschen und eine Art Ritual zu vollziehen, um sich auf die körperliche Vereinigung mit Simon vorzubereiten. Doch im letzten Augenblick war sie dann
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