Die Hueterin der Krone
staubige Geruch des Hochsommers hing in der Luft. Die Amme saß am Fenster, wiegte den kleinen Wilkin und gurrte ihm etwas vor. Das Glucksen ihres Sohnes lenkte Adeliza einen Moment lang ab. Sie drehte sich zu ihm um. Ein Gefühl reiner Liebe durchströmte sie. Er war ihr kleines Wunder; sie konnte es immer noch kaum fassen, dass Gott ihn ihr geschenkt hatte.
Dann wandte sie sich mit einem Lächeln auf den Lippen wieder zum Fenster. Will stand, die Hände in die Hüften gestemmt, im Hof. Der Wind zerzauste seine dunklen Locken, während er mit seinem obersten Steinmetz über die Bauarbeiten am Bergfried sprach. Seine unverminderte Zuneigung war Balsam für ihre Seele und heilte endlich die schmerzende Wunde.
Will brach in Kürze nach Winchester auf, wo über den Fall der Bischöfe von Salisbury, Ely und Lincoln verhandelt werden sollte. Roger of Salisbury und Alexander of Lincoln saßen in Haft, Nigel of Ely rebellierte in den Fenlands. Adeliza empfand es als schändlich, dass ein König die Waffen gegen Stellvertreter Gottes auf Erden erhob. Zwistigkeiten zwischen Kirche und Staat schlichtete man auf andere Weise.
Ihr Gesicht wurde nachdenklich, als sie den Blick auf den Brief heftete, den ihr ein Bote kurz zuvor gebracht hatte. Er trug Matildas ovales Wachssiegel an einer grünen Schnur. Sie hatte Will noch nichts davon erzählt und spielte mit dem Gedanken, ihm den Brief erst zu zeigen, wenn er vom Hof zurückgekehrt war, weil sie sich vor dem Inhalt fürchtete. Aufgrund der Unruhen in England behielt Stephen die Küstenlinie scharf im Auge, weil er eine Invasion aus der Normandie befürchtete. Ein Sturm zog auf, und Adeliza musste entweder handeln oder wegschauen.
Endlich wandte sie sich vom Fenster ab, erbrach das Siegel des Briefes und begann zu lesen. Das Schreiben war in Matildas klarer Handschrift in deutscher Sprache verfasst, die sie beide verstanden. Dadurch verhinderten sie, dass Unbefugte, Will eingeschlossen, von dem Inhalt erfuhren. Matilda verlieh ihrer Freude Ausdruck, dass Adeliza einen Sohn geboren habe, und dankte Gott, dass sie und das Kind wohlauf seien. Sie fügte hinzu, dass ihre eigenen Söhne rasch heranwüchsen und sie mit ihren Fortschritten sehr zufrieden sei, besonders mit dem klugen und aufgeweckten Henry. Die nächsten Worte schienen mehrfach ausradiert worden zu sein, das Pergament war dünn und rau – was der für gewöhnlich so entschlossenen Matilda überhaupt nicht ähnlich sah, doch als Adeliza weiterlas, begriff sie und schlug erschrocken eine Hand vor den Mund. Matilda schrieb, dass sie ihre geliebte Stiefmutter lange nicht gesehen habe und sie gerne in Arundel besuchen würde, wenn sie willkommen sei. Außerdem wolle sie mit Stephen über die Zukunft der Krone von England und der Herzogskrone der Normandie verhandeln.
»Großer Gott«, flüsterte Adeliza. Der Brief schien zwischen ihren Fingern zu brennen. Was würde Will als treuer Gefolgsmann des Königs dazu sagen? Wenn sie sich einverstanden erklärte, würde sie die Todfeindin des Königs in ihr Haus einladen. Aber es war die Pflicht einer Königin zu versuchen, Frieden zu stiften, und Matilda war ihre Verwandte, ihre angeheiratete Tochter, Stephen dagegen nur ein Thronräuber, auch wenn Will ihm noch so ergeben sein mochte.
Als sie Wills Stimme auf der Treppe hörte, faltete sie das Pergament rasch zusammen und verstaute es in ihrer Schreibtruhe. Sie brauchte Zeit, um sich zurechtzulegen, was sie ihm sagen wollte.
Will betrat die Kammer, ging zu seinem Sohn, küsste ihn und kitzelte ihn unter dem Kinn, was ihm ein lautes Krähen entlockte. Dann schloss er Adeliza in die Arme.
»Die Männer sind bereit«, sagte er. »Kommst du hinunter, um uns zu verabschieden?« Stirnrunzelnd trat er einen Schritt zurück und berührte ihr Gesicht. »Was ist denn?«
»Nichts.« Sie rang sich ein Lächeln ab.
»Schau, wir sind in ein paar Tagen wieder da, und du bist hier vollkommen sicher. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Adeliza fühlte sich elend, weil er ihr Schuldbewusstsein für Furcht hielt. »Das weiß ich. Gib gut auf dich acht, mein Mann.« Sie strich liebevoll über seine Stoppeln und küsste ihn.
Nachdem sie die Männer wie eine gute, pflichtbewusste Ehefrau verabschiedet hatte, kehrte sie in ihre Kammer zurück, nahm Matildas Brief aus der Truhe und studierte ihn noch ein Mal gründlich. Und dann warf sie ihn ins Feuer und wartete, bis er vollständig zu Asche zerfallen war.
Als Will vier Tage später vom
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